AW: Habe eben Ben beim Einkaufen "verloren"
Mir ist das öfter passiert, immer mit meinem Sohn. Die Mädchen bleiben zum Glück an meinem Rockzipfel.
Als Julian drei Jahre alt war, wohnten wir in Berlin Pankow. Jedes Wochenende sind wir zwei nach Hause zu meiner Ma und meinen Schwestern gefahren.
Julian ist gern mit mir einkaufen gegangen, an einem Junitag hatte ich mitten in der Woche frei und wollte mit ihm lange bummeln gehen. Ich hatte ihn angezogen und mußte nur noch schnell mal aufs Klo. Als ich zurückkam war er weg. Er war nicht in unserem Zimmer, er war nicht im Flur, er war nicht im Haus und auch nicht in dem Grundstückchen davor. Ich konnte ihn auf der Strasse nicht entdecken. Ich bin umhergelaufen wie ein aufgescheuchtes Huhn und immer panischer geworden.
Meine Arbeitsstelle lag genau hinter dem Haus, man musste nur durch die Baustelle, dort bin ich auch nachsehen gegangen, es hätte ja sein können das er dorthin gelaufen ist.
Aber nein, er ist auch dort nicht gesehen worden. Bei einer älteren mütterlichen Kollegin bin ich dann in Tränen ausgebrochen, in meinem Kopf spulten sich Horrorszenarien ab. Sicher, das war noch vor der Wende und es gab weniger Autos in Berlin, aber ausreichend und schnell genug waren sie auch.
Meine Kollegin hat mir dann erklärt wie ich die Polizeidienststelle finden kann. Auf dem Weg dorthin bin ich, weil ich wegen dem vielen Heulen nichts mehr sehen konnte, gestürzt und habe mir die Hose zerissen und das Knie aufgeschürft.
Angekommen, endlich völlig aufgelöst bei der Polizei hat man mir mitgeteilt, dass eben ein kleiner blonder Junge dort gewesen sei, jaja die Beschreibung passt. Aber er konnte ihnen seinen Namen nicht nennen. Julian war eben drei Jahre alt (so alt wei nimue jetzt...) und er hat auf die Frage : "wie heißt Du?" immer geantwortet:"drei Jahre!" Die Polizisten konnten nicht wissen, das er auf die Frage: "wie alt bist Du?" durchaus seinen Namen gesagt hätte.
Weil sie sich nicht helfen konnten, haben sie ihn mit einem netten Polizisten losgeschickt, in der Hoffnung, Julian würde ihm sein zu Hause zeigen.
Mich haben sie auch nach Hause geschickt, damit ihn jemand in Empfang nehmen würde, wenn er dort auftaucht.
Ich bin heimwerts gerannt, habe mich vor die Tür gesetzt und gewartet und gewartet und eine Zigarette nach der anderen geraucht, immer noch am ganzen Körper bebend und zitternd. Eine Stunde verging, anderhalb Stunden. Anrufen konnte ich nicht, im Osten hatten wenige Menschen Telefon und zur Telefonzelle wollte ich nicht, wenn er gerade dann kommen würde?
Irgenwann, es kam mir vor als wären Ewigkeiten vergangen, bin ich dann doch wieder los, die Straße entlang. Und da kam er mir entgegen, ein kleiner Blondschopf, winzig sah er aus an der Hand des riesigen auch blonden Polizisten, in der Hand beide ein großes Eis. Ich bin auf sie zugerannt und habe sie beim Näherkommen plaudern und lachen gehört. Ankommen, auf die Knie fallen, das Kind zerdrücken und lachen und weinen war eins.
Der freundliche Polizist hat mich beglückwünscht zu meinem "Prachtsohn" und mir dann lachend seine letzten zwei Stunden geschildert.
Julian hat ihn natürlich nicht auf direktem Weg nach Hause geführt, sondern zum Bahnhof Pankow. Dort hat er ihm gezeigt wo er immer zur Oma fährt. Neben dem Bahnhof stand immer ein kleines Kinderkarussel, dort mußte der nette Polizist Julian ein paar Runden drehen lassen. "Danach", so hat der Knirps dem Polizisten versprochen, "zeigt er ihm wo er wohnt! Aber ein Eis, ein Eis mußte er auch noch haben. Und so haben die beiden sich ein Eis gekauft, sind noch mal am Springbrunnen vorbeigeschlendert und dann ganz fröhlich endlich in Richtung Heimat marschiert.
Julian hat keinen Schaden davon getragen, im Gegenteil. Sehr zu meinem Leidwesen war er überzeugt sein Leben schon ganz prima selbstständig meistern zu können. Ich mußte ihn noch manchmal suchen...
Aber lange Rede kurzer Sinn, der Polizist hat mir empfohlen, dem Kind was noch nicht sicher Name und Anschrift nennen kann die Adresse in den Schuh zu schreiben, auf die Sohle. Bei Sandalen ist das ziemlich praktisch, bei Stiefeln könnte man ja einen Aufkleber einkleben?
Ich schick Dir viele Tröstis!
Silke