War jemand von euch schon in Auschwitz?

Schäfchen

Copilotin
Das Problem ist: die Klassenlehrerin fürchtet, wenn wir was anderes machen, dass es die Zahl der verweigernden Schüler erhöht. Weil das andere ja cooler ist oder angenehmer. Es ist die Grätsche zwischen Sonderstatus wegen begleitender Mutter und dem Wunsch des Schulleiters, dass jemand da ist, der abbrechende Kinder auffängt und betreut. Denn letzteres kommt noch dazu: es muss / soll jemand da sein für die, die nicht mehr können. Wegen Aufsichtspflicht und so.
 

Charlie

Familienmitglied
Ich habe Jugendfahrten nach Auschwitz begleitet. Schon seit den Achtziger Jahren und bis 2014. Darauf, dass es Besucher gibt, die das Entsetzen nicht durchgehend aushalten, ist man dort vorbereitet, das passiert immer wieder. Ich hatte z.B. eine sechzehnjährige Teilnehmerin, ein kluges, starkes Mädchen, die den Namen ihres Grossvaters auf einem Strafdokument in der Spalte für den Aufseher fand (darauf war sie zwar vorbereitet, aber - da nützt keine Vorbereitung. Das ist ein Tritt in den Bauch), die dann schnell aus dem Archivraum heraus musste (und später klug und stark und tränenüberströmt wieder hineinhing, obwohl wir ihr alle versicherten, sie müsse sich das nicht noch einmal antun. Sie war aber sicher: Doch, das müsse sie, das gehöre zu ihrer Geschichte, zu keinem von uns. Und wir konnten ihr nur Respekt zollen und Recht geben). Das geht da alles. Gerade Birkenau ist unendlich weitläufig, da kann man weitab von Baracken unter Bäumen stehen und Vögel singen hören. Man kann Pausen machen. Man kann sich ins Gras setzen. Oder sich im Lager Canada zu den Löffeln und Schlüsseln knien und weinen. Auschwitz ist nicht nur Entsetzen - es ist auch ein Ort, wo diese Riesenwoge von Trauer und Fassungslosigkeit und Nicht-ertragen-können ein Ventil findet. Einer der einstigen Häftlinge, die mit uns gereist sind, hat gesagt: "Kommt her, um zu weinen und zu schreien. Hier liegen nicht nur Menschen, hier liegen eure Träume und euer Jahrhundert begraben." Das ist sehr sehr richtig. Weinen und schreien in Auschwitz - besonders zusammen weinen und schreien - gibt Kraft zum Kämpfen, und die brauchen wir. Die müssen wir unseren Kindern mitgeben, damit sie dafür einstehen: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. Ich hatte mein jüngstes Kind vor anderthalb Jahren mit in Stutthof, weil ich dort recherchiert habe, und mein empfindliches, vor Menschenliebe überflutendes Kind war danach so verzweifelt, dass mein Mann auch Angst hatte, mit ihm nach Auschwitz weiterzureisen. Ich hatte keine. Auschwitz darf nicht nur, Auschwitz muss wehtun. So sehr wehtun, dass wir es keinen Tag lang vergessen. Dass es uns vor lauter Trauer wütend und kampfbereit macht. Ich wollte wie Du bei allen meinen Kindern dabei sein, wenn sie Auschwitz sehen, aber ich wollte, dass sie es sehen, und es war gut so. Bei meinem zarten, jüngsten Kind genauso wie bei seinen Geschwistern. Natürlich hätte ich kein Kind gezwungen. Aber ich hätte es ermutigt, hätte ihm gesagt: Das ist wichtig für uns, für die Menschen, die wir sind und sein wollen, und das schaffen wir. Wir halten uns aneinander fest. Und ich hätte ihm gesagt, was er ja weiss: dass die Menschen, die dorthin geschleppt, geschleift, geprügelt worden sind, keine Wahl hatten. Dass sie es aushalten mussten und dass wir es ihnen schuldig sind, wenigstens das Gedenken auszuhalten.So seltsam das klingt: Das ist ein Akt der Liebe, des Mitleids, der Menschlichkeit, und es tut gut, den Millionen von Mordopfern diese Ehre zu erweisen. Den Boden, in dem ihre Asche liegt, zu streicheln. Und zu weinen.
 

Die Solistin

Dauerschnullerer
Danke Charlie, für Deine Worte. Sie werden den Kindern und Kindeskindern all derjenigen gerecht, die keine Wahl haben, ob Auschwitz und all die anderen Vernichtungsmaschinen in ihr Leben sollen oder nicht. Weil das Grauen einfach in ihren Familien wohnt. All over the world. Weil da ein großes schwarzes Loch in einer Generation klafft, das immer wieder so bedrohlich wird. Ich durchleide gerade mit meiner dementen Mutter den immer wiederkehrenden Horror ihrer Kindertage. Und bin so hilflos... Und ich kann nicht entrinnen. Niemals.
Marah
P. S. Ich schätze sehr, dass ihr Euch das Thema nicht einfach macht und darum ringt.
 

PePaMel

Dauerschnullerer
Hallo,

danke für die Erklärungen.

Da mein Sohn noch klein ist, kann ich mich aktuell überhaupt nicht rein versetzen wie es ist wenn er älter ist, bzw. wie dann seine Gemütslage ist.

Als wir letztes Jahr im Herbst den Todesfall hatten, war ich auch extrem verunsichert was man ihm zumuten kann/darf.

Bei diesen 3. Reich Themen in der Schule wusste ich nicht, dass man sich denen entziehen kann. Aus der Ferne betrachtet finde ich es eigentlich nicht gut ...

So hart das im Einzelfall ist, so wichtig ist es in meinen Augen sich damit auseinander zu setzen.

Ich bin generell der Meinung, dass zu wenig Realität in den Köpfen der Menschen heutzutage vorhanden ist.
Denke da vor allem an Tierhaltung/Schlachtung, aber auch daran welchen Preis unser Leben wie wir es führen global gesehen hat.

Wir machen einfach viel zu häufig die Augen vor allem unangenehmen zu.

Die Frage ist jetzt für mich, ab welchem Alter sind die Wahrheiten zumutbar. Bzw. kommt es wohl auf den Individuellen Reifegrad an.

Ich will übrigens niemandem zu Nahe treten. Hab hier einfach meine (aktuelle und nicht in Stein gemeißelte) Meinung geschrieben.
 

Schäfchen

Copilotin
Ich wollte wie Du bei allen meinen Kindern dabei sein, wenn sie Auschwitz sehen, aber ich wollte, dass sie es sehen, und es war gut so.

Ich will nicht dabei sein. Ich habe die sinnvollste Lösung für das Problem "mein Kind" gefunden, um es nicht von der Klassenfahrt auszuschließen. Weil sie kompliziert ist. Weil sie stur ist. Weil sie immernoch immer mal wieder aus Konflikten wegläuft - fatal wenn das mitten in Krakau passiert. Und sie hat Konfliktpotential, weil sie nie einen Schritt zurückgeht, weil sie alles für bare Münze nimmt, weil sie Ironie nicht immer versteht, weil sie ein Problem mit Empathie hat und oft verletzt. Da steckt also mehr als Auschwitz hinter. Ich halte den Lehrern aber zugute, dass sie um Gespräch und Lösungen baten. Die, dass ich begleitend mitfahre ist eher aus der Not geboren, weil ohnehin eine Betreuung wegfiel. Und nein, ich will nicht zwangsläufig dass sie es sieht. Ich will es auch nicht unbedingt. Ich weiß, was Neuengamme mit mir gemacht hat. Als Erwachsener. Vorbereitet. Ich finde den Ausflug schlecht vorbereitet, auf einer Abschlussfahrt deplaziert. Aber ich kann es nicht ändern, nur versuchen das beste daraus zu machen.

Dass sie es aushalten mussten und dass wir es ihnen schuldig sind, wenigstens das Gedenken auszuhalten.So seltsam das klingt: Das ist ein Akt der Liebe, des Mitleids, der Menschlichkeit, und es tut gut, den Millionen von Mordopfern diese Ehre zu erweisen. Den Boden, in dem ihre Asche liegt, zu streicheln. Und zu weinen.

Und dann kommt da mein Kind. Empathie mangelhaft. Mit dem Argument, dass sie es ja schon einmal ausgehalten hat. Sie wird nicht weinen. Sie wird keinen Boden streicheln. Sie will (und kann) kein Mitleid geben, lehnt das weitergeben von Liebe ab. Trauer ist etwas, was ihr fremd ist oder was sie nicht zulassen kann/will. Sie war die einzige, die der Tot der Oma sichtbar kalt ließ. Ich habe also ein Kind, dass das Thema höchstens in sich reinfrisst, im Zweifel nicht ansprechbar ist weil es doch zu nahe geht, im worst case wegläuft ...

Es ist nicht einfach.
 

Blümchen

Mama Biber
Sie werden den Kindern und Kindeskindern all derjenigen gerecht, die keine Wahl haben, ob Auschwitz und all die anderen Vernichtungsmaschinen in ihr Leben sollen oder nicht.

Ich finde, Auschwitz gehört in alle Leben, in jeden Kopf. Genauso wie Buchenwald, Bergen- Belsen, Dachau. Und jeder andere Ort, an dem Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer Sexualität oder ihrer Gene als unwürdiges Leben ausgelöscht wurden.
Niemals darf in Vergessenheit geraten, was geschehen ist, niemals darf es möglich sein, dass so etwas wieder möglich wird.
Und die Präsenz der noch vorhandenen Stätten zu nutzen, um damit auf allen Wahrnehmungsebenen zu verdeutlichen, was da wirklich passiert ist, wie unermesslich grausam und unfassbar die Geschehnisse waren, das ist gut und wichtig und richtig.

In meiner Familie war es Hadamar, ein Ort, der sich kaum oder nur sehr weit unten in der Liste der Vernichtungslager finden lässt, an dem aber ebenso so unermesslich schreckliche Sachen passiert sind wie an anderen Orten.
Mich hat das als Kind schon sehr bewegt, ich habe sehr früh angefangen, Informationen zu sammeln (erfahrungsgemäß wird vieles, was die eigene Familiengeschichte betrifft, ja auch totgeschwiegen oder verdrängt), um das unfassbare Grauen irgendwie eingrenzen zu können. Es ist mir nicht gelungen. Ich stehe bis heute fassungslos vor dem, was möglich war.

Hätte ich es als Jugendliche in Auschwitz sein müssen, zwangsweise verpflichtend von einer Schule, die all das nicht begleitet und aufarbeitet, ich wäre zerbrochen. Es wäre ein massiver seelischer Übergriff gewesen, weil ich es nicht verkraftet hätte. Und ich behaupte, dass ich das unfassbare Grauen ansonsten auf allen mir möglichen Arten versucht habe, zu verinnerlichen, ich schaue nicht weg, ich bagatellisiere nicht. Mich erschüttert jedes Schicksal, von dem ich höre oder lese. Wenn ich mir vorstelle, das hinter jeder Zahl dieser schrecklichen Summe an Toten, aber auch an Überlebenden und traumatisierten Menschen, ein einzelnes Schicksal steht, das einzige Leben, dass dieser Mensch hatte, dann will ich schreien und weglaufen und nicht mehr aufhören zu weinen.

Schule und Gesellschaft haben aber soviel mehr Verantwortung dafür, dass Ausgrenzung, Hass und Mord kein Boden mehr geboten wird. Mit einem Pflichtbesuch in Auschwitz kann sich niemand freikaufen von seiner sozialen Verantwortung. Und eine fehlende Aufbereitung des Aufenthalts an einem Ort, der durchaus traumatisieren kann, ist alles andere als seiner sozialen Verantwortung gerecht geworden zu sein.
Die Mobbingrate in Schulen ist extrem hoch, Ausgrenzung von anderen hat oft schon in Grundschulen Hochkonjunktur. Da agieren gerade die erwachsenen Täter von morgen. Die nächsten Machthaber.
Wir haben ein derart großes gesellschaftliches Problem, gerade was Ausgrenzung und Hass angeht, dass es bereits nicht mehr nur fünf vor 12, sondern noch später ist, dem Einhalt zu gebieten.
Das Schlimmste ist noch nicht mal, dass der Nationalsozialismus in seiner unfassbaren Unmenschlichkeit möglich war. Das Schlimmste ist, dass er wieder möglich wäre. Weil ihm wieder der Boden bereitet wird.

Deshalb bin ich ganz bei dir, dass der Nationalsozialismus mit all seinen Auswirkungen, mit all seiner Entsetzlichkeit, in alle Leben gehört. Jeder muss darüber Bescheid wissen, so gut wie möglich. Niemand darf davor weglaufen können.
Aber jeder muss auch die Möglichkeit, das Umfeld, die Bedingungen haben, selber respektvoll und achtsam wahrgenommen und behandelt zu werden. Dass das eine große Utopie ist, ist mir selber klar, wir sind so weit davon entfernt.
Aber den Anfängen zu wehren beginnt doch genau da. Im Kleinen, bei jedem.

Wenn wir aufrechte Kinder wollen, die zu aufrechten, empathischen Erwachsenen werden sollen, dann müssen wir sie sehen und ernstnehmen. Und begleiten. Ich weiß, dass Schule das nicht leisten kann. Aber dann kann Schule auch nicht bestimmen, dass für alle die gleichen emotionalen Schmerzgrenzen zu gelten haben.
ich frage mich, ob ein verpflichtender Tagesaufenthalt im ehemaligen Konzentrationslager im Nutzen höher stehen kann als die persönlichen Empfindungen der einzelnen Schüler. Und warum keine umfassende Aufarbeitung angeboten wird. Und wenn ich darüber nachdenke, dann reduziert sich der Aufenthalt dort für mich auf etwas, das aus Sicht der Schulen vielleicht lediglich als Pflicht angesehen wird, damit man seinen Teil getan hat. Etwas, das heute zum Lehrplan dazu gehört.
Aber eigentlich legitimiert man mit diesem Weg nur das Grauen und hilft nicht dabei, es unvergessen transparent zu machen. Es zukünftig zu verhindern. Weil auch hier wieder Zwang im Vordergrund steht und es nicht die Möglichkeit gibt, sich den Weg selber zu erarbeiten.
Wie soll man das Unfassbare begreifen, was dort geschehen ist? Ohne Aufarbeitungsmöglichkeit ist der Wunsch nach Verdrängung oft groß, ein wichtiger Überlebensmechanismus. All das führt aber nicht zu aufgeklärten, mündigen, empathischen Erwachsenen, es hängt soviel mehr daran. Viel mehr, als den meisten Verantwortlichen überhaupt klar ist.

Andrea, ich wünsche euch, dass ihr das Beste aus der Situation machen könnt. Alle Liebe!
 

Blümchen

Mama Biber
(((Marah)))
Es ist so schrecklich, all das wieder und wieder erleben zu müssen. ich kann kaum erahnen, was das für euch bedeutet und wie schwer es immer wieder sein muss. Ich wünsche euch viel Kraft dafür. Es gibt soviele traumatisierte Menschen, die ihre Erfahrungen nie aufarbeiten konnten, sondern verdrängen mussten, um überhaupt irgendwie überleben zu können.
 

Charlie

Familienmitglied
Was du geschrieben hast, Blümchen, das würde ich am liebsten irgendwo anpinnen. Irgendwo, wo es jeder liest. Danke dafür.
 
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