Gedichte & Gedanken Schietegal: Nächstenliebe anders betrachtet

La Bimme

Leseratte
Moderatorin
Falls es dem Autor zu Ohren kommen sollte, werd ich schon mit ihm einig. Das ist ein ganz Netter. Hab auf der Buchmesse ein Autogramm bekommen. ;-)






Ich liebe alle, die in der fünften Etage wohnen. Das ist gar nicht schwer, weil dort nämlich nur meine Familie wohnt.
Aber die, die unter uns wohnen, sind in meiner Liebe nicht inbegriffen. In mein Herz passt nur diese eine Etage rein.
Nicht dass irgendetwas verkehrt wäre an den beiden älteren Schwestern, die unter uns wohnen. Sie grüßen höflich und haben all die Jahre lang nie etwas anderes gezeigt als Freundlichkeit. Sie haben einen kleinen Hund an einer Leine, der raus muss und sicher an die fünf mal am Tag pinkelt. Fürchterlich, dass der so oft pinkeln muss. Manchmal denke ich, das ist überhaupt kein Hund, sondern eine in Fell gekleidete Niere. Aber sie lieben ihren Hund; sie wohnen ja schließlich auf derselben Etage.

Es kommt vor, dass ich überlege, ob ich die in der vierten Etage lieben lernen könnte. Das sollte nicht so schwer sein. Wir sagen uns ziemlich oft, dass ein gemeinsamer Drink am Abend doch mal nett wäre. Aber ihr Tonfall ist genauso teilnahmslos wie meiner, wenn wir so etwas sagen. Und das ist doch ein Zeichen dafür, dass wir eine ähnliche Denkweise haben. Da müsste ich sie doch lieben können.
Aber die Frage ist ja, ob man einen Drink bei jemandem zu nehmen wagt, der eine Wanderniere hat. Cocktails wie „Kiss on the Beach“ bekommen einen vollkommen neuen Sinn. [Anm. von mir: schw. „kiss“ bedeutet „Pipi“] Es ist so hellhörig in unserem Haus. Manchmal hören wir, wie die Schwestern Joan Baez spielen. Wir nennen sie gewöhnlich Kiss und Baez, aber nur so, dass sie es nicht hören. Nein, diesen Spaß machen nur wir uns in der fünften Etage.
Vielleicht haben die in der vierten Etage auch ihren Spaß, wenn sie die Tür zugemacht haben. Vielleicht denken sie sich witzige Namen für uns aus und streicheln den Hund mit all ihrer Vierte-Etage-Liebe?
Unter der vierten Etage gibt es noch ich weiß nicht wie viele Geschosse.
Es ist erschreckend, wie viele Leute man nicht liebt.
Technisch gesehen ist mein Herz auch eine Innerei; Man muss schon aufpassen, dass es nicht zu einem bloßen Stück rotes Fleisch wird, das Blut pumpt.

Vielleicht ist es einfacher, die Nachbarn zu lieben, wenn man im Reihenhaus wohnt? Da wohnt man ja sozusagen auf gleicher Etage. Wir zogen in ein neugebautes Reihenhaus, als ich sieben war. In den Annoncen wurde die Gegend als „grün und familiär“ beschrieben. Alle Männer waren Ingenieure, alle Frauen waren Hausfrauen. Morgens fuhren alle Männer mit ihren Saabs zu ihrer Arbeit, und alle Frauen blieben zu Hause und verwalteten das Idyllische und Familiäre und Grüne. Und das Grün wurde grüner und grüner, von Frühlingsgrün und Sommergrün über Pistaziengrün bis zum etwas gesprenkelten Gelbgrün der Unruhe und schließlich dem vollerblühten Giftgrün der Geisteskrankheit. Die Tristesse und Idylle ließ alle Hausfrauen verrückt werden. Wenn sie nicht zu trinken anfingen, so knabberten sie Tabletten oder wurden religiös auf diese „Plakat-Rumtragen-Müssen-Vorm-Geschäft-Und-Erklären-Dass-Gott-Bald-Kommt-Und-Selbiges-Verkünden-Mittels-Verrückte-Hausfrau-Trägt-Plakat-Vorm-Geschäft“-Weise. Und das war schon familiär, weil es Irrsinn und Missbrauch und Alkoholismus in allen Familien gibt. Der Wiedererkennungseffekt war hundertprozentig. Aber bedeutete das, dass wir in der Nachbarschaft einander liebten? Nein.... Man kann ja nicht jeden Schwachkopf lieben, auf den man trifft. Das Leben ist zu kurz und die Narrenparade zu lang. Außerdem lagen die Plakate zu Müll geworden vorm Geschäft herum, nachdem der Rettungswagen die Hausfrauen abgeholt hatte, und unsere Fahrräder bekamen Platten von den schlecht eingehämmerten Nägeln.

Ich glaube nicht, dass es schwerer ist, Leute aus Reihenhäusern zu lieben als Leute aus Hochhäusern. Ich glaube, es ist überhaupt schwer, Leute zu lieben. Nicht, weil sie es nicht verdienen würden, geliebt zu werden, sondern weil mein Herz so klein ist. Es passen irgendwie nur die rein, die ich gut kenne. Aber wenn es so schwer ist, fremde Menschen zu lieben: Warum ist es dann so leicht, sie nicht ausstehen zu können? Heißt das, dass meine Galle größer als mein Herz ist? So einer will ich ja nun auch nicht sein.

Vielleicht kann man Liebe trainieren?
In meinem Fitnesstudio trainieren diese Anabolhühnchen Muskelgruppen, von deren Existenz ein vernünftiger Mensch nicht einmal etwas ahnt. Ob man auch sein Herz trainieren kann? Stellt Euch vor, ich würde in die vierte Etage runtergehen, anklingeln und sie bitten, auf einen Drink hochzukommen. Sie werden ja wohl nicht die Polizei rufen, oder? Der Hund würde vielleicht krepieren und mir ans Bein pinkeln. Das muss ich in dem Fall abkönnen. Liebe hat immer ihren Preis, und wenn es keine Tränen sind, so ist es Urin am Schienbein.
Aber was ist der Preis für ein Leben ohne Liebe?
Das gedenke ich wahrlich nicht herauszufinden.
Es ist erschreckend, wie viele man noch nicht liebt.
Aber bald.
Aber bald.
 
L

Lillian

AW: Schietegal: Nächstenliebe anders betrachtet

Herrlich :)

Und :prima: für die Übersetzung. Wenn ich einen Text aus einer anderen Sprache ins Deutsche übersetzt, kriege ich nie einen guten Sprachstil hin. Ironie und Witz schonmal gar nicht.
 

La Bimme

Leseratte
Moderatorin
AW: Schietegal: Nächstenliebe anders betrachtet

Ja, für mich ist es auch beides. Ich muss oft Tränen lachen, aber gleichzeitig schreibt er mit Wärme (geht in der Übersetzung vielleicht verloren) und Tiefe.
 
E

Enie

AW: Schietegal: Nächstenliebe anders betrachtet

Gefällt mir, der Text! :prima:
Wie heißt denn nun eigentlich der Autor?
 

La Bimme

Leseratte
Moderatorin
AW: Schietegal: Nächstenliebe anders betrachtet

Ach so, ja, das müsste vielleicht doch sein:
M a r k L e v e n g o o d

@Annie: Ja, schwedisch klingt nett, nicht? :)
 
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