Gedichte & Gedanken Geschichte: Die Könige mit den kahlen Köpfen

Krabbelkaefer

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Besonders schön, für alle die ein wenig Kraft brauchen.

Die Könige mit den kahlen Köpfen

Eisig fegte der Wind durch die menschenleere Dorfstraße. Langsam senkte sich aschgrau die Dämmerung herab, als plötzlich, mit dem fünften Schlag der Turmuhr, viele vermummte Gestalten aus den umliegenden Häusern eilten. Alle überquerten den Marktplatz und strebten wie die Lemminge auf das große neue Gebäude am Ende der Straße zu.
In der Eingangshalle des Gemeindezentrums verwandelten sich die Mumien schlagartig in fröhlich lachende Jugendliche. Sie warfen ihre Mäntel und Mützen auf die Garderobentheke und schwatzten munter los. „Brr“, rief Martin und schlug die Arme gegeneinander, „was für eine Kälte.“ Einige Kinder rannten lärmend durchs Foyer. Die Erwachsenen schauten schmunzelnd zu. Doch dann drang lautstark und energisch die Stimme von Herrn Meier, dem Bürgermeister, durch die Halle. Er klatschte in die Hände und rief: „Genug jetzt, alles auf die Bühne!“ Unter Schubsen und Rennen drängten die Jungen und Mädchen durch den großen Saal auf die Bühne. Herr Meier erwartete unbedingten Gehorsam, das wussten alle. Schließlich hatte er großen Anteil an der Errichtung des neuen Gemeindezentrums. Das Krippenspiel zur Einweihung sollte ein Erfolg werden und so ließ er es sich nicht nehmen, selbst Regie zu führen. Noch ahnte er nicht, wie rebellisch seine Schauspieler sein konnten. Denn die Akteure waren allesamt jung, hatten total andere Vorstellungen von einer Weihnachtsaufführung und waren nur allzu bereit für ungewöhnliche Neuerungen.
Kaum hatten Maria und Josef neben der Krippe Aufstellung genommen, rief eine Stimme aus dem Saal: „Herr Meier, hier sind zwei Kinder, die Sie unbedingt sprechen wollen.“
„Keine Zeit, sie sollen sich auf die Stühle setzen“, rief Herr Meier verdrießlich. Doch zu seinem Erstaunen kam ein blasser, bleistiftdünner Junge mit einem kleinen zarten Mädchen an der Hand direkt auf die Bühne. „Ich sagte doch, keine Störung jetzt“, blaffte Herr Meier. Er schaute etwas verwundert auf die beiden Gestalten.
„Guten Tag“, lächelte das Mädchen, „einen schönen Gruß von Schwester Agathe und da sind wir.“
„Das sehe ich. Aber wer seid ihr?“, der Bürgermeister konnte sich keinen Reim auf das Ganze machen.
„Er kennt uns nicht“, flüsterte die kleine Julia dem großen Berthold zu. „Wir sollten unsere Mützen abnehmen.“ So nahmen beide ihre Mützen ab und zeigten den erstaunten Umstehenden ihre völlig kahlen Köpfe. „Wissen Sie jetzt, wer wir sind?“
„Keine Ahnung“, versicherte der Bürgermeister.
„Im Sommer besuchten Sie im Krankenhaus die Krebsstation für Kinder. Damals haben Sie uns versprochen, dass nach der Chemotherapie unser Wunsch in Erfüllung gehen wird und wir beim Krippenspiel einen König spielen dürfen.“
Der Bürgermeister war perplex. „Ich entsinne mich“, antwortete er lahm. „Nun ...“, er druckste herum, „wir haben aber schon drei Könige und übermorgen ist Heiliger Abend, also zu spät, um euch noch eine Rolle zu geben.“
Inzwischen umringten alle Schauspieler neugierig die Gesprächsgruppe. „Kommt, setzt euch da unten in die erste Reihe“, versuchte der Bürgermeister die beiden Neulinge zu beschwichtigen, „ihr bekommt auch bei der Aufführung einen Ehrenplatz und nächstes Jahr ...“ Weiter kam er nicht.
„Nein, das wollen wir nicht“, verkündete Berthold laut und drückte dabei Julias Hand. „Ob wir nächstes Jahr noch ...“ Er vollendete den Satz nicht.
„Aber ich sehe wirklich keine Möglichkeit“, fing der Bürgermeister erneut an. Mit einem Mal bahnte sich Stefanie, die die Maria spielte energisch einen Weg durch die Gruppe. Sie hatte das Jesuskind aus der Krippe genommen und laut wandte sie sich an Herrn Meier: „Wenn Sie es den beiden versprochen haben, müssen Sie es halten. Sonst werde ich samt dem Jesuskind nicht mitspielen.“
Herr Meier war fassungslos. Was bildete sich diese Göre denn ein? Doch ehe er den Mund aufmachen konnte, trat Josef vor: „Wenn Maria geht, muss ich als Josef mit ihr und dem Kind gehen.“ Die anderen grinsten verstohlen. „Dasselbe gilt selbstverständlich auch für uns“, meldeten sich die Hirten. Der Aufruhr war perfekt.
„Schon gut, schon gut“, rief Herr Meier entnervt, „ich habe verstanden. Also was schlagt ihr vor?“
Es folgte eine heftige Diskussion mit lautstarken Äußerungen und verschwörerischem Getuschel. Doch ganz allmählich schälte sich eine Lösung heraus, mit der alle zufrieden waren.
Die Geschichte um die beiden kranken Kinder machte rasch die Runde im Dorf. Jeder wollte wissen, wie die Sache ausgehen würde und am Heiligen Abend nach dem Gottesdienst war im Gemeindezentrum kein Stuhl mehr frei.
Alles klappte tadellos. Dann kam der spannende Moment.
„Wir sind die Heiligen Drei Könige und kommen von fern.
Wir bringen Gold, Weihrauch und Myrrhe unserem Herrn.“
Drei prächtig gekleidete Könige mit Kronen auf dem Kopf traten neben die Krippe, knieten nieder und überreichten dem Kind ihre Gaben.
Dann kamen zögerlich noch zwei Könige. Ein kleines blasses Mädchen und ein großer schmaler Junge. Beide trugen normale Kleidung, aber auf ihren kahlen Köpfen trug jeder eine wunderschöne Krone. Sie knieten neben der Krippe nieder, nahmen ihre Kronen ab und der Junge sagte mit zitternder Stimme:
„Liebes Jesuskind, wir möchten dir so gerne etwas schenken. Aber wir haben nichts Wertvolles. Deshalb bringen wir unsere Kronen - aber sie sind nicht aus Gold. Wir bringen dir unsere Herzen - aber sie sind voller Angst. Wir weihen dir unser Leben - aber wir wissen nicht, wie lange es noch dauert.“
Jeder im Saal war tief betroffen und mancher hörte tränenblind, wie Maria sagte: „Seht, wie das Kind euch zulächelt.“ Dann nahm sie zwei Kerzen, zündete sie an und sagte: „Nehmt dieses Licht als Zeichen der Hoffnung, und als Zeichen der Liebe. Und wenn es ganz finster um euch wird, zündet diese Kerzen an und seid gewiss, dass das Kind in der Krippe euch nahe ist und euch auch in der tiefsten Dunkelheit nicht verlässt.“
In diesem Moment gingen im Saal alle Lichter aus. Nur die beiden Kerzen brannten und irgendwo im Hintergrund fing leise das Harmonium an zu spielen und eine weiche Stimme sang:
„Dies ist die Nacht, da mir erschienen
des großen Gottes Freundlichkeit;
das Kind, dem alle Engel dienen,
bringt Licht in meine Dunkelheit
und dieses Welt- und Himmelslicht
weicht hunderttausend Sonnen nicht.“
Am Ende sangen alle im Saal mit und keiner, der dabei war, wird dieses Weihnachtsfest je vergessen.
(Ursula Berg)
 
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