Gedichte & Gedanken Die kleinen Mädchen...

Buchstabensalat

Lebenskünstlerin
...liefen durch den Garten, hinten heraus und an der Holzlattung vorbei in den Garten der Oma. Hinten stand die Schaukel, und sie konnten ihre Cousinen hören.
Aber die Cousinen waren nicht begeistert davon, daß die Kleinen kamen. Manchmal ist es sicher nett, wenn man mit so kleinen Kindern spielt, aber wenn man selbst Besuch hat, dann ist man mit sieben, bzw. zehn Jahren doch einfach zu alt, sich mit solchen Babies abzugeben!
Die Kleinen hielten dagegen, daß sie überhaupt nicht klein seien. Immerhin war die eine ja gerade fünf geworden, und die andere schon seit zwei Monaten vier!
Aber das beeindruckte die Großen nicht. Sie nahmen ihre Freunde in Schlepp und verzogen sich hinter die Mauer. Dort war Niemandsland, Oma konnte sie nicht aus dem Fenster heraus auf den Kieker nehmen und ihnen befehlen, die Kleinen mitspielen zu lassen.

Die kleinen Mädchen trösteten sich über die Zurückweisung hinweg, indem sie sie in einen Sieg ummünzten. Die Schaukel gehörte ungestört ihnen!
Eine Weile waren sie zufrieden, zu schaukeln, dann wurde es ihnen langweilig. Sie schlichen durch die großen Rhododendren und fanden einen Stock. Keinen von der kleinen, schlackerigen Sorte, sondern einen veritablen Knüppel, einen Stock der Sonderklasse! Man konnte mit ihm auf den Boden schlagen, den Busch verdreschen, ihn in die Luft recken - und im Wasser mit ihm stochern!

Kaum war die Idee geboren, rannten die kleinen Mädchen schon rüber, zum Swimming Pool. Der war zwar eingezäunt, aber vorne, wo der Einstieg war. Ansonsten grenzte nur ein kleines, ca. 50 cm hohes Mäuerchen das tiefe Becken zum Weg hin ab, lief die Länge des Pools entlang und bog rechtwinklig ab, um das Fußende zu bilden. Die gegenüberliegende lange Seite bestand aus der 2 m hohen Mauer, hinter der sie die Cousinen spielen hören konnten. Pah, was konnten die schon spielen, was besser gewesen wäre als dieser Stock!

Die kleinen Mädchen stiegen die große Stufe hoch, durch das Tor. Jetzt standen sie am Kopfende des Pools, wo die Leiter ins Wasser führte. Tief war es auch hier, wohl 1,40 m. Wie breit mochte der Pool sein? 3 m, 6 m lang? Es spielte für die Kinder keine Rolle. Am Kopfende war in Poolbreite und ungefähr 2 m breit ein Podest aufgemauert, auf dem sie jetzt standen. In der Ecke zur hohen Mauer lagen die Schwimmsessel, denen Mama letztes Jahr die Rückenlehnen abgeschnitten hatte, weil sie kaputt waren.

Die Mädels warfen keinen Blick drauf. Die Ältere, mit dem Recht der Erstgeborenen, tauchte den Stock ins Wasser. Sie stieß ihn tief hinein, und zusammen beobachteten sie, wie das Holz wieder auftauchte. Nochmal, und noch einmal... dann glitt er aus ihren Fingern. Gemächlich schwamm das Holz von der Leiter weg.

Die Kleinere griff nach der Metallleiter, stellte sich auf die oberste Sprosse, ließ den Griff los und versuchte ihn zu erhaschen. Vergeblich. Er war schon zu weit. Die Kleinere trat wieder auf den umlaufenden Plattenrand. Der Stock schwamm in die Mitte der Wasserfläche. Unerreichbar.

Eine Weile standen sie unschlüssig herum. Wenn sie den Stock jetzt da schwimmen ließen, würde es Ärger geben. Der Pool war erst vor wenigen Tagen von der ganzen Familie geputzt worden, bevor das Wasser nach dem Winter neu eingelassen worden war. Sie konnten sich noch gut erinnern, wie sie in Gummistiefeln schlotternd im knöcheltiefen Wasser gestanden hatten und mit kleinen Bürsten die bläuliche Plastikplane mit Steinplattenmuster geschrubbt hatten. März war noch kein sehr warmer Monat, und es würde noch lange dauern, bis das eiskalte Wasser angenehme Temperaturen hätte. So wie im letzten Sommer, als sie mit den Wassersesseln gespielt hatten.

Die Wassersessel gaben den Ausschlag. Sie schwammen, mit ihnen konnte man trockenen Fußes zum Stock kommen. Niemand würde Fragen stellen, wie der Stock in den Pool gekommen wäre. Niemand würde mit ihnen schimpfen, weil sie verbotenerweise durch das Törchen gegangen waren. Niemand würde es wissen.

Die Sessel gemeinsam in den Pool zu werfen, war eine vergleichsweise leichte Aufgabe. Mehr Überlegung erforderte schon, sich auf sie zu setzen, ohne nasse Füße zu bekommen. Sie lösten es, indem sie sich bäuchlings auf die Sessel gleiten ließen, dann aufsetzten, während sie sich am Plattenrand des Pools festhielten. Die Kleinere traute dem Frieden nicht so recht und hangelte sich Hand über Hand am Rand des Pools weiter, während ihre große Schwester sich auf dem Gummisessel zurechtsetzte.

Die Kleine war bis ungefähr zur halben Länge des Pools gekommen, als sie den Platsch hörte. Überrascht sah sie über die Schulter. Ihre Schwester schlug um sich, wühlte das Wasser auf, der Sessel wurde von den Wellen davongespült.
Vor Schreck glitt sie ebenfalls von dem Luftkissen. Ihre Beine wurden naß und kalt, ihre Gummistiefel liefen voll Wasser. Verzweifelt hielt sie sich am Rand fest, strampelte, zog sich wieder hoch, lag auf den Platten.

Sie schwang sich über den Rand, rannte das Fußende des Pools entlang. Kein Blick zurück auf das Schreckliche.
Um die Mauer herum: niemand dort. Die Cousinen waren fort.
Zurück an der Mauer, in den elterlichen Garten. Mama! Mama mußte kommen!
Sie hetzte den Gartenweg entlang, am Wohnzimmer vorbei, zur Küchentür. Wild schlug sie mit den Fäusten an die Glastür. Niemand öffnete. Mama! Mama komm! Niemand öffnete.

Was nun? Omi! Omi half, bestimmt half sie!
Die nasse Kleine machte kehrt, rannte, rannte wieder den Gartenweg entlang, diesmal links herum, über den Hof, am Haus hoch. Die Tür stand offen, sie rannte die Treppenstufen hoch. Sicher war die ganze Treppe jetzt völlig naß... aber Omi mußte doch kommen und helfen, ganz sicher würde sie!
Die Kleine reckte sich, drückte die Klingel, ließ sie nicht mehr los.

Die Tür öffnete sich, Omi! Hilf ihr! Sie liegt im Wasser!

Die Oma brauchte einen Moment, die Nachricht zu verstehen. Dann rannte sie zum Fenster, dem Fenster, das den ganzen Garten übersah, aber die großen Bäume versperrten den Blick. Sie mußte zum nächsten Fenster, und dort sah sie es.

Sie rannte zurück, an der Kleine vorbei, die Treppe mit den nassen Fußstapfen herunter. Die Kleine heftete sich an ihre Fersen, aber ihre Beine waren kürzer und die Oma machte einen guten Vorsprung wett. Trotzdem schaffte es die Kleine, den Abstand nicht größer werden zu lassen, und kam gerade zurecht, zu sehen, wie die Oma in voller Bekleidung in den Pool sprang. Omi, man denke, ihn ihrem schicken schmalen Hängerkleid und mit ihrer Perlenkette!

Omi schaffte es, sie holte die Große heraus. Jetzt würde alles gut werden, sicherlich. Die Kleine war einen klitzekleinen Moment lang erleichtert. Dann hielt Oma die große Schwester hoch, mit dem Kopf nach unten, und so viel Wasser floß aus ihren Kleidern, floß aus ihr heraus.

Es erschreckte die Kleine. Einen Moment lang wollte sie nicht sehen, wollte nicht hören. So viel Wasser. Warum warf Omi die große Schwester auf den Boden, warum küßte sie sie? Wo kamen jetzt die Eltern auf einmal her? Woher die Tante, der Onkel? Auch die Cousinen waren plötzlich da, so viele Leute, so viel Wirrwarr. Worauf warteten sie alle? Und warum nahmen Papi und Mami die große Schwester jetzt plötzlich zwischen sich? Warum brachten sie sie zum Auto?

"Ich will mit!" rief die Kleine, aber sie wurde festgehalten, zurückgehalten. Wohin brachten sie ihre Schwester?

Es dauerte lange, bis Mami und Papi zurückkamen. Sie hatten ihre Schwester nicht mitgebracht. Sie weinten. Sie schimpften mit der Kleinen und bohrten in ihr mit Fragen, und die Kleine hatte keine Antworten. Bekam keine Antworten. Was war denn los? Wann würde ihre Schwester wiederkommen?

Ihre Schwester kam wieder. Sie trug das hübsche blaue Samtkleid, das sie an Nikolaus und zu Weihnachten getragen hatte. Ihre Haare waren frisch gekämmt, und sie lag in den weißen Kissen, zugedeckt. Durfte man denn angezogen unter der Decke liegen? Und warum lag sie überhaupt in dem weißen Holzkasten? Warum weinten alle?

"Mami", flüsterte die Kleine, "warum liegt sie da drin?"
"Scht," war die Antwort, "sei still. Sie ist tot."
"Aber Mami, sie ist nicht tot. Schau doch, sie hat die Augen auf! Sie guckt doch!"
"Scht, sei still!"
Die Kleine wagte nicht, zu widersprechen. Wenn doch ihre Schwester jetzt einfach aufstünde, dann würden Mami und Papi schon sehen...

Aber sie stand nicht auf. Sie machten einen Deckel auf den Holzkasten, und sie mußte in ihr Zimmer gehen und durfte nicht weiter unten, im Wohnzimmer, bleiben. Sie durfte auch nicht mit.

Das Einzige, was ihr blieb, waren die Anziehsachen. Sie nahm sich jeden Abend etwas mit ins Bett, drapierte ein T-Shirt, ein Kleid oder eine Hose auf ihrem Kissen. Sorgfältig ausgerichtet neben dem Schlips von Papi, dem Pulli von Mami. Dann konnte sie ihre Nase in die verschiedenen Kleidungsstücke bohren und tief einatmen, die Augen schließen. Hhhhmm... Papis Geruch. Hhmmmm... Mami. Hmmm...

Eines Tages war auch ihr Geruch endgültig fort.

Claudia, *12.3.1970, +4.6.1975
 

Evelyn

Bibi Blocksberg
AW: Die kleinen Mädchen...

:cry:


:rose:



Unfassbar.



Wie lange ist es schon her - mein Geburtsjahr. Und dennoch bleibt es Teil des Lebens.


Ganz leise,


Evelyn
 
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