Der weite Weg ins Licht (Roman)

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Petra Altmannshofer

Der weite Weg ins Licht

Ohne Operation keine Schwangerschaft

Im Sommer 2000 wurden Stefan und ich uns einig, dass wir zusammen ein Kind haben möchten. Ich wusste schon seit Jahren von einem großen Myom an meiner Gebärmutter. Mein Frauenarzt hatte mich darauf hingewiesen, dass dieses Myom weg muss, bevor ich an eine Schwangerschaft denken kann.
Ich also in die Frauenklinik München in die Ambulanz, um die Diagnose meines Frauenarztes bestätigen zu lassen und einen OP-Termin auszumachen.
Im November sollte ich dann operiert werden. Alles Routine. Ich also in die Frauenklinik, Narkose-Aufklärung, Bluttests bla, bla.
Am Nachmittag vor OP noch mal ein Ultraschall. Der Arzt schaut auf den Monitor, schiebt seinen Abtaster in mir hin und her und her und hin und fragt mich: „Wie kommen Sie denn drauf, dass Sie ein Myom hätten?“ „Na das hat mein Frauenarzt so gesagt, und Ihre Kollegen in der Ambulanz auch.“ „Aha.“
Abends um 8 kommt die Stationsschwester zu mir und sagt: „Frau Altmannshofer, unser Professor hätte sie gerne noch mal untersucht, vor der OP morgen. Kommen Sie doch gleich mal mit.“ WUNDER???
Begrüßung vom Professor: „Ich will mir das noch mal mit Ultraschall anschauen.“ Monitor schau, mit Assistenzarzt beflüster. „Hmmm, ziehen Sie sich mal wieder an und dann reden wir.“ NOCH MEHR WUNDER????
„Tja Frau Altmannshofer, Sie haben kein Myom, Sie haben einen riesengroßen Eierstock-Tumor auf der rechten Seite.“
Es zog mir den Boden unter den Füßen weg.
Dann erklärte er mir: das muss kein Krebs sein, kann ganz harmlos sein. ABER: Man sieht das erst unter der OP, was man vor sich hat. Sollte sich ein Krebs-Verdacht bestätigen, würde er mir empfehlen, die Gebärmutter zu entfernen und die Lymphdrüsen in den Leisten auch gleich. Ich fühlte mich noch nie in meinem Leben so allein.
Mein Mann und die Schwestern auf Station haben mich dann halbwegs wieder aufgebaut und ich hatte eine bange Nacht und brauchte am Morgen Beruhigungsmittel vor der Narkose.
Auf dem Weg zurück in den Aufwachraum weckte mich die Assistenzärztin: „Frau Altmannshofer, können Sie mich hören? Es ist alles ok. Der Tumor wog ein Kilo aber wir mussten nur den Eierstock entfernen, Sie können noch ein Baby bekommen.“
Eine noch nie gefühlte Glückseligkeit und tiefe Dankbarkeit und eine unwahrscheinliche Lebenslust durchströmten mich. Am nächsten Tag war ich schon auf dem Gang unterwegs.

Die Schwangerschaft

Im Mai nach der OP war ich schwanger, und dass nachdem die Ärzte mich aufgeklärt hatten, dass es eine Zeit dauern kann, bis der linke Eierstock seinen Dienst antritt und dass es auch sein kann, dass das nie passieren würde.
Stefan und ich hatten zwar in Californien fleißig geübt, aber nicht mit so prompten Erfolg gerechnet. Ich hatte viel Stress in der Arbeit und tippte auf zuviel Nikotin, als mir regelmäßig in der früh schlecht war. Als aber der Busen zu schmerzen anfing, blitzte in mir plötzlich die Erkenntnis: Das ist keine Magenverstimmung! Ich bin schwanger.
Ich war bereits in der 11. Woche, als ich es endlich überrissen habe. Die Schwangerschaft war super. Hatte nur die ganze Zeit schon unter Sodbrennen zu leiden, ansonsten bin ich regelrecht aufgeblüht.
Im Dezember stellte der Verlag die Zeitschrift, in der ich gearbeitet hatte, ein. Als Schwangere vor Kündigung geschützt, musste ich zusehen, wie etliche Kollegen rausgeschmissen wurden. Mir war hundeelend, vor allem weil ich auch nicht wusste, wie der Verlag mich nach dem Mutterschutz wohl einsetzen würde. Auch im Verlag war man ratlos…..

Die äußere Wendung

Mein Baby saß in der 36. Woche immer noch auf dem Po. Das gefiel weder mir noch meiner Ärztin.
Sie lehrte mich die Indische Brücke, um mein Kind doch noch dazu zu bewegen, den Kopf nach unten zu nehmen. Wir wussten schon, dass es ein Mädchen werden würde und nannten sie auch schon Sandra. Ich machte jeden Abend die Brücke und redete ihr gut zu.
Diese Stellung mit Babybauch eine halbe Stunde durchzuhalten war echt schweineanstrengend und ohne das stetige gute Zureden und die Stütze durch Stefan hätte ich es kein einziges Mal durchgehalten. Meine Kleine zappelte in meinem Bauch und ich spürte: sie will sich drehen, aber irgendwie bleibt sie hängen, sie kriegt einfach die Kurve nicht.
Aufgrund dieser Beobachtungen schlug Frau Doktor eine äußere Wendung vor. Das Kind sollte von außen in die richtige Geburtsposition gebracht werden.
Risikoaufklärung: Es können Wehen ausgelöst werden, so dass die Spontangeburt sofort nach der Wende beginnt. Es können nach der Wendung Umstände eintreten, die einen sofortigen Kaiserschnitt in Vollnarkose nötig machen. Aber diese Risiken wurden in der Frauenklinik als gering eingestuft.
Trotzdem bin ich beim ersten Termin in der 38. Woche davongelaufen. Ich saß im Kreissaal zum CTG, die Narkose-Ärztin klärte mich über Vollnarkose und Kaiserschnitt auf. Plötzlich hatte ich Panik: Wenn es die falsche Entscheidung war? Wenn meinem Kind nun doch beim Wenden was passieren würde? Ich konnte einfach nicht und lies den Termin platzen. Alle waren sehr verständnisvoll, klärten mich noch mal auf und schlugen vor, wenn ich möge, könne man es auch am Folgetag probieren.
Eine weitere schlaflose Nacht mit unzähligen Diskussionen mit Stefan und im Internet folgte und am Morgen beschlossen wir beide: wir packen jetzt unseren Mut und die Kliniktasche und fahren nach München.
Dort im Kreissaal angekommen, wurden wir freudig begrüßt, der Professor informiert und wir vorbereitet: CTG, Blut, Hemdchen, Strümpfchen etc. pp.
Der Professor kommt in den Kreissaal, schaut im Ultraschall die Lage des Babys an. Ich erzähle von meinen Erlebnissen bei der Brücke. „Ja, jetzt seh ich es auch. Ihre Tochter versucht einen Salto vorwärts zu machen, und da kommt sie an der Plazenta nicht vorbei, die steht da ein wenig vor. Ich werde jetzt versuchen, ihr eine Rolle rückwärts beizubringen.“
Sprichts und packt mir in den Bauch. Ich sehe auf dem Monitor vom Utraschall: er packt von außen mein Kind an Kopf und Po und fängt an zu schieben. Riesengroßes Gezappel im Bauch, ich veratme diesen ungeheuren Druck, der entsteht, und schwupp spüre ich, wie das Kind in mir drin, in der Gebärmutter entlang gleitet.
Es hat geklappt! Sie liegt mit dem Kopf unten. Am CTG sieht man, dass sie sich furchtbar aufregt. Aber nach ein paar Minuten hat sie sich wieder beruhigt. Ich soll noch eine Weile liegen bleiben und bekomme dann von den Schwestern Frühstück im Kreissaal serviert. Das genieße ich, fahre überglücklich mit meinem Mann nach Hause und freue mich auf eine Spontangeburt. Sandra mochte es lange Zeit überhaupt nicht, wenn man sie an der Stirn anfasste.

Schöne Mädchen brauchen länger

Es ist die 41. Woche. Der ET ist seit vier Tagen vorbei. Mein Muttermund ist fest zu, trotz Akkupunktur und Tee, und obwohl ich schon seit fünf Tagen in der Nacht „Dreckelwehen“ habe. Diese sind so stark, dass ich veratmen muss, kommen aber in unregelmäßigen Abständen. Und pünktlich um halb sechs in der Früh ist der Spuk vorbei. Sandra legt sich schlafen. Ich bin ziemlich frustriert. So wird das ja nie was!
Am Dienstag den 5.3.2002 platzt um 2 Uhr früh die Fruchtblase. Ich hätte einen Freudentanz gemacht, wenn es nicht so eine Schweinerei im Wohnzimmer gewesen wäre.
Um halb sechs legt sich Sandra schlafen. Bei mir brechen die Dämme und ich wecke heulend Stefan: Ich hatte so schöne Wehen, die Fruchtblase ist geplatzt und nun ist wieder Ruhe. Ich heule Rotz und Wasser.
Nach dem Frühstück fahren wir in die Frauenklinik und versichern uns gegenseitig, dass die Wehen dann ja wohl die nächsten Stunden einsetzen werden. Die Frau Doktor sieht das kritischer und schimpft mich, warum ich nicht noch in der Nacht gekommen bin.
Sie will einleiten. Ich will nicht. Wir machen einen Kompromiss: ich schlucke den Stadelmann-Wehencocktail aus Rizinus und Was-weiß-ich-nicht-was. Der Nachmittag vergeht. Keine Wehen. Nichts, nicht mal ein Wehchen.
Frau Doktor sagt mir um fünf, was ich selbst schon weiß: So geht es nicht, wir müssen jetzt einleiten. Also Tablette rein und dann gehen Sie noch mal schön spazieren. Oh boah eh, wir sind vielleicht dreimal den Gang rauf und runter und dann geht der Punk ab.
Wenn das keine tolle Geburtswehe war, dann weiß ich aber nicht. Es folgt eine Wehe nach der anderen und nun weiß ich es ganz genau: Schnell zurück in den Kreissaal. Eine verwunderte Hebamme öffnet. Na gut, dann machen wir halt mal CTG.
Fünf Minuten später ist sie auch ohne CTG schlauer, wer so veratmen muss, der hat Wehen. Und der muss dringend auf den Topf. Denn nun wirken sowohl der Cocktail als auch die Tablette.
Auf der Toilette denke ich: Wie viel Kilo Zeugs ist denn in so einem Darm drin? Und warum hat mir niemand gesagt, dass es Doppelwehen gibt? Eine Wehe an der anderen. Dann Pause. Obwohl das Wort Wehenpause ist entschieden zu lange für diesen Millisekunden-Abstand, den ich erlebe.
Nun wollen die wieder ein CTG und können sich nicht recht damit anfreunden, dass diese widerspenstige Schwangere darauf besteht, dass sie nur und ausschließlich stehen kann. Wie soll man da ein CTG schreiben? Aber mit ein wenig gutem Willen und der Hilfe von Stefan geht es dann ganz gut.
„Frau Altmannshofer, da ist Telefon für Sie.“ Wie bitte, welcher Wahnsinnige ruft mich im Kreissaal an, wo ich doch solche Wehen habe, dass ich es kaum noch veratmen kann und mich an meinen armen, starken, geliebten Mann dranhänge in einer Art und Weise, dass er ziemlich genau weiß, wie schwer 85 Kilo sind. Stefan geht zum Telefon und wimmelt meine Mutter ab. Er ist 30 Sekunden weg und ich setze schon zum Notschrei an. Aber Gott sei Dank, da ist er ja schon wieder und fängt mich auf.
Wir veratmen. Wir stehen. Ich nerve alle Leute: Was sagt das CTG, wie sind die Herztöne? Die Hebamme dreht das CTG weg, damit ich es nicht sehen kann. „Die Maschine ist nicht wichtig, wichtig ist, dass Ihr Kind kommt“.
Ich nerve Stefan: „Bin ich sehr laut?“ „Nein mein Schatz überhaupt nicht“ Das geht eine ganze Weile, bis auch die Hebamme lachen muss: „Sie sind nicht laut. Sie geben ja kaum einen Ton von sich“. Das Rauschen der Brandung in mir ist so laut, dass ich denke ich werde taub davon. Warum hören das die anderen nicht?
Stefan macht alles mit und schickt mir über seine übrigens wunderschönen braunen Augen alle Liebe und alle Kraft, die er nur aufbringen kann. Die Wehen rollen heran wie die Brandung in Frankreich am Atlantik. Zwischendurch Muttermund-Befund: vier Zentimeter.
Plötzlich kriege ich Angst: ich schaff das nicht. Ich kann es in der Brandung aushalten, aber ich weiß genau: Keine zwölf Stunden und auch keine acht. Ich sage zu Stefan, dass ich eine PDA haben will. Er ist erleichtert, denn er hält mich seit fast vier Stunden im Stehen, weil ich in jeder anderen Stellung ausflippe vor Schmerz. Nach einer kurzen Rückfrage bei der Hebamme „Bin ich ein Weichei, wenn ich eine PDA haben will“ steht der Beschluss: der Anästesist muss her.
Er lässt sich Zeit und ich habe schon Angst, dass er zu spät kommt. Aber nein, da trottet er endlich in den Kreissaal. Vornüberbeugen, Vorbereitung. „Bei der nächsten Wehenpause setz ich dann die Nadel.“ Da wirst Du Probleme kriegen Junge, denn so schnell ist auch der routinierteste Nadelleger nicht, dass er in diesen Päuschen arbeiten kann. Er spritzt mir einen Wehenhemmer und ist sichtlich genervt. Für drei Minuten sind die Wehen weg, ich wusste schon gar nicht mehr, wie ein Bauch ohne Wehen sich anfühlt. Die PDA sitzt und ich muss mich hinlegen. Aber nun geht das auch, die Schmerzen sind sofort erträglicher.
Stefan hält meine Hand und schickt weiterhin alle Power rüber, die irgend zu mobilisieren ist. Eine Hebammenschülerin leistet uns Gesellschaft. Ich merke, wie bei Stefan die Kraft nachlässt und bitte sie, ob ich ihre Hand auch halten kann. Ich habe weiterhin einen enormen Druckschmerz, den ich angestrengt veratmen muss. Ein paar Mal kommt eine große Welle und ich habe Angst drin zu ertrinken. Gott sei Dank merkt Stefan es jedes Mal und schafft es mich zu beruhigen und mir noch mehr Energie zu schicken, so dass ich nicht in Panik verfalle.
Die Schülerin hat sich ganzschön erschrocken, als ich das erste Mal Energie bei ihr ziehe. So was hat sie offensichtlich noch nie erlebt, aber sie findet es toll und macht sich ganz auf, so dass ich auf all ihre Kraft zurückgreifen kann. Das ist gut so, denn die brauche ich. Irgendwann rutscht es ihr dann raus, was ich mir auch schon gedacht habe: Die PDA sitzt nicht richtig. Ich habe vielleicht 30 Prozent Wirkung. Aber das macht nix, mit ihr und Stefan reicht es und ich komme durch.
„Kann es sein, dass ich schon einen Pressdrang verspüre?“ Erstaunte Hebammen-Schülerin: „Ich weiß nicht, ich hol mal die Hebamme“. Diese will einen Muttermund-Befund machen und wird dabei von meiner Tochter ganz fürchterlich eingeklemmt. AUTSCH! Ich sagte doch: ich habe keine Wehenpause, warum glaubt mir hier keiner was. Befund 8 bis 10 cm. Das Kind schiebt mit aller Macht nach draußen. „Darf ich pressen?“ „Klar legen Sie mal los“ Eine Wohltat, Stefan hält meinen Kopf und ich presse was das Zeug hält.
Frau Doktor kommt. „Na wenigsten eine, bei der es voran geht. Dann haben Sie ja noch vor Mitternacht ihr Kind“. Stefan ist deutlich anzusehen, dass er davon auch überzeugt ist und wenn er höchstpersönlich dafür sorgen muss. Ich presse und werde angespornt: „Pressen, pressen, noch nen Schubs.“ Es klappt nicht. „Sie müssen pressen wie beim Stuhlgang.“ Leute ich presse nicht beim Stuhlgang. Was wollt ihr denn von mir. „Nicht die Kraft in die Beine, die Kraft in den Bauch.“ Ich blick es überhaupt nicht, worum es geht und was man von mir erwartet. So geht es nicht. Frau Doktor verändert meine Position auf dem Bett, schnallt die Fußstützen an. So Stefan: Dann sorg mal dafür, dass unsere Sandra noch vor Mitternacht kommt.
Frau Doktor und Stefan schieben bei jeder Wehe mit. Ich natürlich auch. Es ist eine Ochsentour. Der Kopf ist durch. Frau Doktor schreit: „Jetzt nicht pressen, sonst geht es kaputt.“ Sandra ist auf halbem Weg stecken geblieben und Frau Doktor zieht sie ganz vorsichtig endgültig ins Licht der Welt.

Wie ich lernte, meine Tochter zu lieben

Da liegt was auf meinem Bauch. Es ist blau-rot und schnappt nach Luft. Es ist erkennbar ein hilfloser kleiner Mensch. Aber meine Tochter? Ist das meine Tochter? Was hat dieses Menschlein denn mit mir zu tun? Meine Tochter liegt auf meinem Bauch und ich spüre: NICHTS. Ich bin nicht glücklich, ich bin auch nicht unglücklich. Ich fühle mich nur leer und ausgepowert und wundere mich, wo ich die Kraft zum Atmen hernehme.
Stefan verliebt sich sofort in sie. Er schneidet die Nabelschnur durch und er gibt ihr noch im Kreissaal das erste Fläschchen. Ich liege da, schaue sie an und denke mir, komisch, das soll meine Tochter sein?
Bis ich auf Station komme, ist es acht Uhr morgens. Ich bin duchgefroren und halb verdurstet. Mein Baby ist bei mir und ich versuche mich trotz Katheter und Tropf irgendwie um diesen Menschen zu kümmern, für den ich nun die Verantwortung habe und der meinen Schutz braucht und der mir so fremd ist. Dieses Baby war in meinem Bauch? Merkwürdig.
Nachmittags nerven die Großeltern und ich bin froh, dass Sandra nachts an den Monitor ins Kinderzimmer muss. Ich will schlafen und fühle mich weiterhin wie eine leere Kanne mit Riß. Wie es mir geht, fragt mich keiner. Also sie fragen schon, aber bevor ich auch nur antworten kann, haben sie sich schon wieder diesem fremden Baby zugewandt.
Um zwei und um vier Uhr früh steh ich im Kinderzimmer an Sandras Bett und überzeuge mich davon, dass da ein Kind ist, das angeblich meiner Tochter sein soll und das selig schläft. Um sechs nehm ich sie mit aufs Zimmer.
Der zweite Tag. Irgendwelche Besucher, irgendwelche Gespräche, ein Kind das meine Fürsorge braucht, der Vater ist ganz verliebt und kann sich gar nicht mehr von ihr losreißen. Ich tue mechanisch die Dinge, die alle von mir erwarten, sprechen, essen, Fläschchen geben. Da liegt ein kleiner Mensch an meiner Brust. Wo kommt der her?
Die zweite Nacht. Ich habe geträumt und laufe weinend ins Kinderzimmer. Sandra hängt am Monitor und ich heule und heule. Nach einer halben Stunde weiß die Kinder-Nachtschwester sich keinen Rat mehr und holt die Nachtschwester von meiner Station. Sie packt mich mit dem Kind in mein Bett.
Ich heule und heule. Wo kommen all diese Tränen her? Sie sitzt nur da und lauscht. Irgendwann kann ich reden: Warum ist dieses Kind mir so fremd. In meinem Bauch war sie mir so vertraut. Ich kannte sie genau: wann sie schläft, wann sie wach ist. Es ist doch meine Tochter, warum fühle ich mich so merkwürdig? Ich habe mich doch so auf dieses Kind gefreut. Warum bin ich jetzt nicht überglücklich? Die Schwester erklärt mir, dass ich mich erst verlieben muss und dass das eine Weile dauern kann.
Am nächsten Tag traue ich mich und gebe Stefan gegenüber zu, dass es mir nicht gut geht. Er ist ein wenig hilflos. Schickt mir meine Schwester vorbei, die mich sehr gut aufbaut und später gelingt es auch ihm, mir ein wenig Trost zu geben. Trotzdem fühle ich mich ferngesteuert und frage mich, wie das denn nun werden soll, wenn meine eigene Tochter von mir nur versorgt und gehätschelt wird, weil ich weiß, dass sie es braucht und auf mich angewiesen ist? Das würde ich für jedes Kind tun und auch für jedes kleine Tier.
Auch die Hebamme zu Hause muss mir noch gut zureden, dass gut Ding eben gut Weile braucht und ich abwarten soll. Das kommt schon noch.
Und ein paar Wochen später ist es dann auch soweit: Sie schaut mich in der Früh um vier an nach ihrem Fläschchen und plötzlich spüre ich es:
Ich liebe sie, wie ich noch nie einen Menschen geliebt habe, ich liebe sie so stark, wie ich nie für möglich gehalten hätte, dass ich lieben kann.
Ich liebe sie ganz und vollkommen, glücklich und bedingungslos. Ich liebe meine Tochter

Sandra Katharina, geboren am 5. März 2002, 23.43 Uhr, 52 cm, 3.500 g.
 

jackie

buchstabenwirbelwind
Moderatorin
echt, petra, mir fehlen die worte und meine augen schwimmen immer noch in tränen. hab mich erstmal fassen müssen, um dir antworten zu können.

insbesondere deine gefühle direkt nach der geburt, die kann ich eins zu eins nachvollziehen.

das hast du so wundervoll geschrieben, einfach wahnsinn.

schick dir eine virtuelle umarmung und ganz viele :bussi:
jackie
 

Frau Anschela

OmmaNuckHasiAnschela
Hallo Petra,

das hast Du super gut aufgeschrieben!! Hammermäßig gut! :bravo: Es hat mir solchen Spass gemacht, Deinen Bericht zu lesen. Und alles war dabei: Gänsehaut, Kloss im Hals und manchmal mußte ich grinsen, zb. darüber dass Du beim Stuhlgang nicht presst. :-D :?

Liebe Grüße
 
C

casy

hallo

das ist wunderbar geschrieben und reißt einen völlig mit
da kommen einem auch gleich die eigenen erinnerungen an die geburt wieder *seufz*

sabine
 

Schäfchen

Copilotin
Oh, wow!

Petra, der Bericht ist einfach nur .... (mir fehlen die Worte!). Ich hab noch immer Tränen in den Augen. Der geht so richtig ans Herz!

Frage: Warum mußte Sandra an einen Monitor?
 
S

sunflower99

Ja, Petra, das isr wirklich ein klasse Bericht.
Man konnte richtig mitfühlen.

einfach toll :bravo:
 
G

gabriela

petra, wenn ein posting wie "schmerzfreie geburt" so ein geburtsbericht gebärt, müssen wir öfters solche diskussionen führen :)

ein schönes, bewegendes geburtsroman (novelle würde ich sagen, für ein roman zu kurz :-D) in dem auch ich manches wiederfinden kann. laurin war mir nach der geburt auch fremd, sah ich ihn zum ersten mal doch nur auf einem foto. nicht wochenlang, aber ein paar tage hat es gedauert bis ich "richtig" verliebt war in ihm. bei mir gab es aber kein knall, es passierte allmählich. flavia war liebe auf den ersten blick und doch, als ich sie nach dem aufwachen aus der narkose zum zweiten mal sah, war sie mir fremd. ich glaube, jede mutter braucht zeit um das mutter dasein erstmal zu verinnerlichen. nicht die hormone allein machen das aus, auch der unterschied zwischen verliebtsein und tiefe, beständige liebe, die wächst und sich stets verändert.

ich hatte auch tränen in den augen bei deiner geschichte und danke dir für den mut, sie mit uns zu teilen :rose:

alles liebe,
gabriela
 
P

Petra Altmannshofer

Froi

Hallo ihr Süßen,
freut mich, dass der Bericht euch gefällt.

@Schäfchen: Weil ich dumme Kuh immer noch auf die "natürlichen" Wehen gehofft hatte, hatte sie prompt Bakterien im Ohr (das wird routinemäßig untersucht nach der Geburt) weil eben die Fruchtblase so lange schon offen war. Weil es da vermehrt zu Atemkomplikationen kommen kann, wurde sie überwacht in der Nacht (drei Nächte). Ist aber auch eine Routine-Sache, mir wurde versichert sie wäre nicht wirklich gefährdet.

@Gabriela: Genauso hab ich es auch erlebt, erst das erste Verliebtsein nach ein paar Wochen, das dann aber garnichts ist im Vergleich zu der tiefen Liebe zu Sandra, die ich jetzt jeden Tag mehr empfinde, je mehr ihre Persönlichkeit zu Tage tritt.

Gute Nacht euch
Petra
 
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