Das Verschwinden der Kindheit

Aus dem STERN Nr. 39 vom 20.9.2007:

DAS VERSCHWINDEN DER KINDHEIT


Als wir Kinder waren, waren wir viele. Kerskens gegenüber hatten neun, Oelingers die Straße hoch fünf, und zu Hause waren wir sechs. Jungs spielten Fußball und Mädchen Gummitwist, wir schnitzten Steinschleudern, jagten Hasen. Die Eltern ließen uns laufen und wenn die Erwachsenen zusammen kamen, bekamen wir einen eigenen Tisch. Aus der ersten Zigarette, so mit elf, wurde gleich eine ganze Packung, danach war uns schlecht, aber niemand hat es bemerkt. Die Welt war groß, die Kinder waren klein.

Wir haben Regenwürmer zerteilt und Heuschrecken geschluckt. Bauten Höhlen hinter Hecken und klauten Äpfel von den Bäumen. Machten Feuer, was wir nicht sollten, fielen von Mauern, was wir nicht wollten. Wir streunten durch die Felder, stauten den Bach und waren immer dreckig. Die schlimmste Strafe war Hausarrest. Wenn wir eine Uhr brauchten, schauten wir hoch zur Kirche. Wir hatten Zeit.

Das ist nicht lange her. 30, 40 Jahre. Heute ernten Eltern von drei Kindern mitleidige Blicke. Wenn Jungen und Mädchen sich verabreden wollen, brauchen sie ein Telefon. In der Küche hängen Terminpläne. Auf dem Fußballplatz, ein paar Häuser weiter, bolzt niemand. Der neunjährige Lewin hätte noch donnerstagsnachmittags Zeit, aber sein bester Freund sitzt bei der Nachhilfe, sonst schafft er in acht Jahren das Abi nicht. Lewins zweitbester Kumpel wohnt einen Kilometer weiter, darf aber nicht allein los. Konrad von gegenüber übt nach den Hausaufgaben Klavier, und Elian, zehn, hockt lieber am Computer. Da kann er so tun, als sei er schon 18. Die Welt ist klein, das Kind schon groß.


Kindheit hat sich verändert. Eltern organisieren die Freizeit, Mütter sind Familienmanager. Kinder zwischen drei und fünf Jahren sehen täglich 70 Minuten fern. Schon in der dritten Klasse hat ein Drittel der Kinder einen eigenen Fernseher. Nein- bis Dreizehnjährige sitzen 90 Minuten am Tag vor dem Computer. Kindheit findet drinnen statt, man muss nicht mehr aus dem Haus.

In Deutschland leben heute zwölf Millionen Kinder unter 15 Jahren, sechs Millionen weniger als 1970. In Großstädten wie Hamburg wohnt nur noch in jedem fünften Haushalt ein Kind. Ein Viertel der Kinder wächst ohne Geschwister auf. Viele nur allein mit der Mutter oder allein mit dem Vater. Die klassische Großfamilie mit Oma und Opa im Haus erlebt nur eins von hundert Kindern.

Die Spielplätze sind eingezäunt, die Bolzplätze verschwunden. Vor Sandkästen sieht man mehr Erwachsene als Kinder. Als neulich Schuljungs in Hamburg ein paar Bretter auf die Äste einer Kastanie legten und ihre Konstruktion zum Baumhaus erklärten, holte ein Mann vom Grünflächenamt sie runter – sie könnten sich verletzen.

Immer häufiger ersetzen Vater und Mutter die Spielkameraden. Jedes dritte Kind im Alter von acht oder neun Jahren ergab eine Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts wünscht sich mehr Kinder zum Spielen; jedes zehnte Kind ist ohne einen guten Freund. Nur knapp ein Viertel der Kinder trifft sich heute noch mit drei oder mehreren Freunden nach der schule. Jedes dritte Kind lebt in Verhältnissen ohne ausreichende Spielmöglichkeiten. Kein Wald, keine Wiese, kein Platz zum Toben.

Eltern haben Angst, die Kinder auf der Straße oder im Park spielen zu lassen. Dass sich Väter oder Mütter um das Wohlergehen ihrer Kinder sorgen, ist nichts Neues. Aber wenn man mit Erziehern und Ärzten, Lehrern und Therapeuten spricht, wird eins rasch deutlich: Der Umgang mit Kindern war schon mal gelassener. „Das wächst sich aus“, „das renkt sich ein“, „das wird schon werden“: Man hört es nicht mehr oft. „Gute“ Eltern wollen sich kümmern, wollen Dinge richten. Typische Szene: Als sich beim Hockeytraining eine Mutter in den Streit ihrer Tochter mit zwei Jungs einmischt, fragt das Mädchen laut: „Mama, darf ich mich wenigstens mal ohne deine Hilfe streiten?“

Es gibt immer noch böse Jungen und schlechte Mädchen. Autos, Treppen, Gartenteiche. „Kinder sind heute nicht ängstlicher“, sagt Heike Ramm, Kinder- und Jugendärztin aus Seevetal bei Hamburg. „Aber die Eltern sind übervorsichtig. Und nehmen Kindern damit viel von der Fähigkeit, Gefahren zu erkennen.“


Der natürliche Umgang geht verloren. Das beginnt bei den Vorsorgeuntersuchungen. Weichen die Söhne und Töchter von der Norm ab, weil sie für das eine oder andere mehr Zeit benötigen, geraten Eltern in Panik. Läuft das eigene Kind als einziges in der Krabbelgruppe noch nicht mit zwölf Monaten, fragen Eltern nach Krankengymnastik. Dass Dummerchen manchmal früher mit dem Sprechen beginnen als die später Klugen, beruhigt nicht. „Genies wie Einstein“, sagt Kinderärztin Heike Ramm, „wären heute schon im Kindergarten gestutzt worden.“ Der kleine Einstein stotterte.

.......Wenn Eltern den Nachwuchs bereits im Kindergarten für den weltweiten Konkurrenzkampf abrichten, bleibt Kindheit nicht der mehr oder weniger geschützte Raum, zu dem er in den vergangenen 50 Jahren geworden war. Früher hieß es: Raus auf die Straße, spielen. Heute: Ab nach Hause, lernen. Damit Chinesen dir später nicht den Arbeitsplatz wegnehmen. „In unserer Epoche“, schreibt der Psychoanalytiker Miguel Benasayag, „hat sich in der westlichen Zivilisation ein Wandel vollzogen: von einem maßlosen Vertrauen in die Zukunft zu einem fast ebenso übertriebenen Misstrauen.“

So wird die Kindheit als eine Zeit voller Gefahren wahrgenommen. Heute spekulieren Eltern eher darüber, was passieren könnte, als darüber nachzudenken, welche Erfahrungen sie ihren Kindern zumuten können. Auch körperliche Verletzungen werden nicht mehr als normale Begleiterscheinungen des Großwerdens akzeptiert. Klettern Kinder auf Bäume, liegen ihren Eltern die Worte „Komm da sofort runter!“ oder „Du wirst dir wehtun!“ im Mund. Die Erwachsenen entscheiden, wie sich Kinder zu fühlen haben, und erwarten, dass sie ihre Empfindungen bestätigen: Kind, zieh dir die Jacke an, Mama ist kalt.
 

M&M

Dauerschnullerer
AW: Das Verschwinden der Kindheit

:umfall::umfall: Das stimmt da hast du recht!!! es ist wirklich so aber es gibt ja auch kaum Kinderspielplätze die nicht vom Jugenlichen belagat werden als ich mit Maik im Sommer um 6 noch auf dem Spielplatz war waren bestimmt 10 jugendliche mit alkeholflaschen und haben sie getrunken und auf dem Boden geschm,issen die zeit ist sehr schlimm geworden. ich hatte angst gebe ich zu gerade als Frau wenn man daqnn was sagt dann heißt es nur halt die sch..... LG:winke:
 

Zaza

Miss Velo High Heels
AW: Das Verschwinden der Kindheit

Tja... So ganz einfach sagen: "Das stimmt, früher war alles besser!" kann ich nicht.

Ich kenne das selbst aus meiner Kindheit. Nachmittags ging ich raus, es waren viele Kinder da, mit denen ich spielen konnte. Ich wusste lediglich, dass ich um 6 Uhr daheim sein musste. Klar, haben wir einen Haufen Unsinn gemacht. :)

Meiner Meinung nach darf man einfach nicht vergessen was wir heute haben und damals nicht hatten. Viele U's? Daraus resultierende Therapien, Sorgen, Nöte? Bei allem Fluch haben die auch einen Segen! Viele Eltern sind richtig froh darüber, mit Grund. Auch die Angst, Kinder könnten sich verletzen ist durchaus berechtigt. Dank unserem medizinischen Fortschritt und einem Haufen Statistiken wissen wir ja schliesslich, dass die meisten Behinderungen nach der Geburt entstehen - durch Unfälle. Und gerade solche Dinge beeindrucken uns sehr. Und wir sind der Meinung, dass wir sie verhindern können/sollten/müssten. Da wird natürlich der Perfektionismus ordentlich gefüttert. Perfekte Kinder, hübsche Kinder, sorgenfreies Leben. Andererseits: Von meinen alten Freunden hatte niemand eine Behinderung durch einen Unfall. Klar, einer fiel vom Baum und brach sich ein Bein, der nächste hatte durch Stuhlkippeln eine Platzwunde am Kopf, hintenübergefallen. Nun, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun: Zwei starben in jungen Jahren bei einem Verkehrsunfall unter Drogeneinfluss...

Seit meiner Jugend vor gut 30 Jahren hat sich enorm viel verändert. Ich kannte keine Computerspiele nur dieses öde Telespiel, von dem wir nach einer Viertelstunde echt genug hatten (war ja auch super-doof :hahaha: ) Aber wenn wir Super Mario, Giga-Gemetzel Teil 1134, etcpp. gehabt hätten, hätten wir nicht dann auch...? Und hätte meine Mutter mir nicht auch das eine oder andere Mal hinterhertelefoniert wenn ich ein Handy gehabt hätte? Und wäre sie dann nicht auch beruhigter gewesen?

Uns hat man, weiss Gott, auch eingebläut, dass 'ohne Abitur gar nichts geht heutzutage'. War das nicht im Vergleich zu heute etwas das Gleiche? Nur mit anderen Vorzeichen? Die Möglichkeiten steigen, also auch die Ansprüche.

Zu meiner Jugend wurden einige Kinder auch überbehütet. Da wird für einen 20-jährigen noch von der Mutter ein Termin beim Kinderarzt (!!!) gemacht. Ja, und wie soll der gute Mann lernen es selbst zu tun? Der gute alte Satz: "Hilf mir, es selbst zu tun" hat damals wie heute seine Berechtigung.

Kinder zu haben und eine solide Ausgangslage für das Leben zu 'basteln' war noch nie einfach. Weder 'damals' noch heute. Nur wird heute mit 'anderen' Bandagen und Messlatten gemessen.

Zaza
 

Dustin`s Mom

Gehört zum Inventar
AW: Das Verschwinden der Kindheit

Jup muss da echt rechtgeben.
Früher also vor gut 20-25 Jahren warens aber auch noch nicht ganz soviele Autos.
Ich war als Kind auch relativ behütet, hatte aber auch durchaus meinen Freiraum später und hab da meine Mutter an den Rande des Wahnsinns so ein zweimal getrieben als wir unterwegs waren und sie nich wusste wo ich bin.

Nu ja mein kleiner darf noch nich alleine raus, aber irgendwann muss ich ihn auch ziehen lassen. Hatte ein Gedicht vielmehr ich habe es noch steht auf dem Zettel vom Kiga. Is ein sehr wahres gedicht. Ich schau mal vllt. find ichs im Net dann brauch ichs nich abzutippeln.
 
W

Wolfen

AW: Das Verschwinden der Kindheit

Ich versuche ein Stückchen früher am Leben zu erhalten.

Wir haben ein Paradies im Garten geschaffen in dem meine Kinder mit ihren Freunden toben dürfen.
Der Wald und die Feldmark liegen neben an und das Baumhaus habe wir gemeinsam gebaut.

Fernsehen ist selten ein Thema, Kinder habe wir immer ganz viele im Haus.

Und will mein Sohn dann mal weg und nicht gleich um die Ecke bekommt er um meine Angst zu lindern ein Handy in den Rucksack und unseren Ben unseren Berner...

Schade das das bei vielen Familien nicht mehr so geht.
Grade in den Großstädten und bei dem was da draußen alles so passiert verstehe ich als Mami ganz genau die Übervorsicht.

Die alten Zeiten waren vielleicht manchmal besser, aber haben das nicht auch schon unsere Eltern gesagt, und ich schätze unsere Kinder sagen das später zu ihren Kindern...


liebgruß Wolfen
 

Susala

Prinzessin auf der Palme
AW: Das Verschwinden der Kindheit

Ganz ehlrich? Meine Mutter war viel ängstlicher als ich es bin. Mein Kleiner darf viel mehr als ich durfte. Zu meiner Kinheit gab es schon Vorsorgeuntersuchungen. Damals im Gesundheitsamt. Ich finde mich im Text von früher kein bißchen wieder. Also vor gut 30 Jahren gab es schon Autos. Nur gab es keine 30 Zonen, sondern die fuhren überall 50kmh.

Sind wir wirklich schon so alt, dass wir erzählen, das früher alles besser war? :umfall::umfall::umfall:
 
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