Gedichte & Gedanken Der Treppensturz

Buchstabensalat

Lebenskünstlerin
In unserem "Zwei-"Familienhaus gibt es natürlich eine Treppe. Genauer drei Treppen, nämlich die Stein-Kellertreppe ins EG, die Holztreppe in den 1. Stock (wo wir wohnen) und die äußerst steile Bodentreppe (mit Tür), die in unsere Arbeitszimmer führt.
Alle Treppen hatten schon ihre Türgitter: im Arbeitszimmer ein unglaublich elegantes Teil, das das gesamte Treppenloch umschloß, handgezimmert vom holzwürmigen Opa, auf unserer Ebene ein normales Feld-Wald-Wiesengitter zum Festklemmen (einfach aber effektiv, kaum einer unserer erwachsenen Besucher durchschaut den Öffnungsmechanismus auf Anhieb) - ja, nur die Kellertreppe noch nicht.
Gott, warum auch, immerhin sind wir nur dann unten, wenn wir rausgehen wollen, das Kind tobt also nicht alleine dorten herum.
Aber wann immer ich mit Cassie da stehe, mahnt mein lieber Schwiegervater: "Paß auf, daß sie da nicht herunterfällt. Paß auf!"
Jedesmal nicke ich pflichtbewußt (natürlich passe ich auf!). Trotzdem regt er sich auf, wenn das kleine Wiesel um mich herumflitzt und plötzlich hinter mir steht (ja nun, da muß ich mich auch erst drehen, bin ich Hellseher?)
Auch heute wuchte ich wieder den Kinderwagen an seinen Platz vor dem Treppenabgang in den Keller (knapp kann man dann noch mit nem Wäschekorb vorbei), während Töchterlein mit Opa flirtet, der gerade den Besen schwingt.
"Ich muß gerade noch nen Korb Wäsche hochbringen, paßt du gerade auf sie auf?"
"Ja, mach ich."
Und schon bin ich im Keller, Korb gepackt, an den beiden vorbeigedrängt und die Holztreppe hoch zu uns. Opa wird gleich zum Kaffeetrinken auch hochkommen, bis dahin steht der Korb im Wohnzimmer und ich mache die Tour zum zweiten Mal, um mein Kleines zu holen und aus der Jacke zu pellen.
Ich bin gerade beim Treppenabsatz, wo die Treppe sich dreht, da höre ich ein lautes "Plumps", ein Schrei: "Oh NEIN! JETZT IST ES PASSIERT!" - der Korb steht, ich fliege mit drei Schritten die Treppe hinunter, um die Ecke, nächste Treppe, mein Kind liegt am Fuße der Steintreppe im Keller, rollt noch fast, schnappe sie, hebe sie hoch, ein Schmerzensschrei erhebt sich in markerschütternder Stärke, ich presse sie an meine Brust - "Schhschh, ist ja alles GUUUUT!" - was ist denn nur passiert?
Opa schaut mich verzweifelt an, versucht mir - und sich - zu erklären, was denn nur passiert ist - irgendwie ist sie in Windeseile an ihm vorbei, vor die Treppe, hat das Gleichgewicht verloren und ist die Steintreppe herunter"gerollt", sagt er, bis nach unten - und dann war ich ja auch schon da.
Ich begutachte sie, Blut strömt aus ihrem Mund, Schreckensbilder von eingeschlagenen Zähnen blitzen vor meinem inneren Auge auf, Zähne, in den Kiefer zurückgedrückt, Hirnschwellungen, Hämatome...
Hochlaufen, das Telefon holen und den Kinderarzt anrufen. Natürlich hat unser Arzt Urlaub. Was sonst? Also die Vertretung anrufen, ankündigen - Kind Treppe runtergefallen, Blut im Mund, Zähne - schlecht zu erkennen, aber wohl noch alle da, kommen gleich vorbei, ja, sofort.
Cassies Weinen stockt, sie sieht das Telefon und greift danach.
Mir fällt ein erster Stein vom Herzen: wenn sie das Telefon noch interessiert, kann sie zumindest keine schmerzhaften Verletzungen haben.
Inzwischen ist auch das Blut etwas weggesabbert, sie hat sich "nur" die Lippe aufgeschlagen, alle sieben Zähne sind noch da und unversehrt.
Die Treppe wieder runter, Opa instruiert: "Wir fahren zum Arzt."
Auf einmal geht die Tür auf, mein Mann ist gerade nach Hause gekommen, also alles Kommando zurück, nicht Opa fährt mit, sondern er. Die Jacke hab ich ja noch an, es kann sofort losgehen, und innerhalb weniger Minuten sind wir schon da.
Am Empfangstresen des Artzes wiederhole ich mein Sprüchlein: "...gerade angerufen, mein Kind ist die Treppe heruntergefallen..." und bekomme zur Antwort, ich möge doch noch einen Moment warten.
Wir setzen uns in ein etwas getrenntes Wartezimmer.
Cassie wirkt wieder quietschfidel, fängt an zu spielen. Ich beobachte sie gespannt, ob irgendwas ungewöhnlich wirkt. Nein, offensichtlich wohl nicht, keine Gleichgewichtsstörungen, Sehstörungen, Unwohlsein...
Nach einiger Zeit geht mein Mann nochmal zum Tresen, kommt zurück: wir seien wohl gleich dran.
Noch mehr Zeit vergeht. Cassie wird immer kregeler. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Trotzdem scheint mir die Wartezeit unendlich lange zu dauern.
Dann endlich kommen wir ins Behandlungszimmer. Cassie ist inzwischen reichlich ungehalten und murkelig, und mit Erschrecken bemerke ich, daß mir die Wartezeit nicht nur lange vorkam, zwei Stunden!! haben wir jetzt schon dagehockt! Ja seid´s ihr blöde?
Nochmal erkundigt sich mein Mann, ob denn jetzt mal einer komme, und dann trabt der Arzt schließlich an. Was denn so anliege.
Äußerst bissig teile ich ihm mit, daß mein Kind vor zwei Stunden die Treppe heruntergefallen sei, aber anscheinend nichts Schwerwiegendes zurückbehalten habe.
Warum ich denn dann so lange gewartet hätte???
Bitte? Immerhin hatte ich es der Sprechstundenhilfe gegenüber deutlichst erwähnt, und natürlich haben wir auch nachgefragt, aber wenn man zur Antwort erhält: "Ja, Sie sind gleich dran", ja dann glaubt man natürlich auch, daß man sofort dran sei und wartet eben wieder zehn Minuten, und nochmal fünf, und nochmal fünf...
Und hätte Cassie auch nur einen etwas beeinträchtigten Eindruck gemacht, wäre mein Aufstand da wahrscheinlich auch um einiges früher und lauter ausgefallen.
Nun, zumindest jetzt macht er einen Ultraschall, leuchtet ihr in die Augen und klopft sie ab.
Aber außer, daß sie äußerst ungehalten ist, weil es bereits nach sechs Uhr und somit über ihre Abendbrotzeit hinaus ist, scheint ihr nichts zu fehlen.
Der Arzt grübelt.
"Eigentlich", so sagt er, "müßte ihre Tochter ins Krankenhaus und dort überwacht werden. Es könnte sich ja noch ein Blutgerinnsel im Gehirn bilden, sieht zwar nicht danach aus..."
Aber alternativ könnten wir natürlich sie auch beobachten, wenn wir alle zwei Stunden mal die Pupillenreaktion checken und im Zweifelsfalle sofort ins Krankenhaus fahren - wenn sie seltsam müde und unansprechbar wirken würde oder sich die Pupillen bei Licht nicht zusammenzögen.
Der Gedanke, mit einem hungrigen Kind jetzt in die Nachbarstadt zu fahren, damit es in fremder Umgebung alleine schläft, nur damit zweimal die Nacht ein Fremder es weckt und in seine Augen leuchtet, behagt uns beiden nicht. DAS können wir auch - und öfter. Im Zweifelsfall sind wir in zwanzig Minuten da.
Der Arzt gibt uns noch seine Privatnummer, wir sollten uns auf jeden Fall den nächsten Tag melden und ihm sagen, wie es gelaufen sei. Schlechtes Gewissen?
Nach Hause gehts zum Opa, der mit seinem schlechten Gewissen dasteht. Ich tröste ihn etwas, manchmal kann man eben trotz aller Vorsicht nicht mit den Kleinen mithalten...
Die Nacht wird unruhig für alle Beteiligten - ausgenommen Cassie. Sie findet es zwar etwas bizarr, daß Mama ständig hereinkommt und ihr mit einem Licht in die Augen leuchtet, aber wer versteht schon all das seltsame Getue der Großen?
Mit einem kurzen Gähnen jedenfalls dreht sie sich auf die andere Seite und ratzt weiter.
"Und?" flüstert mich des Papas Stimme aus dem Schlafzimmer an.
"Einwandfrei. Wird sofort kleiner." Nächste Schlafphase.
Am nächsten Morgen erinnert nur noch eine verschorfte Lippe Cassies und die äußerst kleinen Augen ihrer Eltern an die unruhige Nacht. Der Arzt wird kurz in Kenntnis gesetzt und findet auch nichts mehr dran auszusetzen.
Offensichtlich hält Cassies harter Dickkopf einiges aus.

Drei Tage später montiert der Opa die selbstgebaute Treppentür an die Kellertreppe.

Gruß,
Buchstabensalat
 
Oben