Der längste Geburtsbericht der Welt - oder wie Paul kam

piglett

herzliches Hörnchen
Dienstagmorgen, acht Uhr.
Ich stehe mit meinem Gepäck vor der Tür des Kreißsaals. Mit dabei: meine Krankenhaustasche und mein Rüstzeug für die Geburt: einen Kurs in Selbsthypnose.

Drei Stunden und fünfzehn Minuten zuvor:
Ich liege im Bett, die Nacht war schrecklich kurz. Mein Hals kratzt, ich fühle mich wie gerädert. Meine bessere Hälfte bringt unsere Tochter zum zehnten Mal wieder in ihr Bett. Ich drehe mich um, ein kurzer, jäher Schmerz im rechten Unterbauch und ein „Plopp“. Ich bin sofort hellwach – es wird nämlich sehr warm und sehr feucht unter mir: meine Fruchtblase ist geplatzt. „Oh no,“ murmele ich in Richtung meines Mannes. „Meine Fruchtblase ist geplatzt.“ Sofort springe ich auf, stehe vor dem Bett und betrachte ungläubig die immer größer werdende Pfütze um meine Füße. „Mach mal bitte das Licht an.“, bitte ich die bessere Hälfte. Woraufhin dieser prompt panisch aus dem Zimmer rennt um Handtücher zu holen, und mich im Dunkeln stehen lässt.
Zurückgekehrt leistet er aber meiner Bitte folge und ich begutachte die Pfütze. Klar, mit weißen Flocken, kein Geruch. Alles in Ordnung also. Ich versuche mich zu erinnern, was im Geburtsvorbereitungskurs über Blasensprünge gesagt wurde, derweil schicke ich Mann und Tochter wieder ins Bett und beschließe erstmal unter die Dusche zu gehen.
Auf dem Weg dorthin ein Blick in den Spiegel. „Ach du Schande. Wie sieht denn mein Bauch aus?“ Ohne das Fruchtwasser ist er ganz spitz geworden und zeichnet die Konturen vom Baby deutlich nach. Ich denke bei mir: „Fruchtwasser wird neu gebildet, das Kind wird durch die Nabelschnur versorgt, jetzt nur keine Panik schieben.“
Das Baby in mir schläft wohl noch, jedenfalls muckst es sich kein bisschen.
Während ich unter dem fließenden, heißen Wasser stehe mache ich einen Plan. Ich überlege was ich noch alles in die Kliniktasche packen muss, welche Termine ich heute absagen muss und: Ganz wichtig, ich muss meiner Hebamme Bescheid sagen. Das tue ich dann auch nach der Dusche unverzüglich. Ich schreibe, dass sich meine Fruchtblase verabschiedet hätte und dass ich nun warten würde, was passiert.
Ich gehe also nach oben an meinen Computer, schreibe zwei Emails. Auf dem Weg in die Küche rennt Clara mich fast um. Der Papa schläft wieder. Also ziehe ich sie erstmal an und mache die Morgentoilette mit ihr. Danach wünscht sie sich zu puzzeln – wir gehen nach unten.
Seit einigen Minuten habe ich ein Ziehen im Bauch und mir ist, als würde das Köpfchen vom Baby immer tiefer ins Becken wandern. Ich beschließe rum zu laufen um durch den Druck des Kopfes die Wehen in Gang zu bringen...... Was auch gut gelingt. Um sechs Uhr habe ich bereits Wehen im Abstand von drei Minuten. Allerdings dauern die nicht lange – so 20/30 Sekunden und sind auch prima auszuhalten. Trotzdem rufe ich meinen Vater an. Der ist Gott sei Dank schon wach und sitzt vor seinem Rechner. Auf sein Nachfragen, warum ich anrufe, scherze ich „Ach, ich wollte nur mal hören, wie es Dir so geht.“. Verständnisloses Schweigen am anderen Ende: „Nein, schieb ich schnell hinterher, „ Ich wollte nur Bescheid sagen, dass meine Fruchtblase geplatzt ist und ich Wehen im Abstand von 2 – bis 3 Minuten habe.“ „Hm“, meint mein Vater, „wann meinst Du denn, dass Du los musst, ich kann heute Mittag kommen und Clara holen.“ „Tja, ich weiß nicht, ob ich noch soviel Zeit habe,“ erwidere ich und wir einigen uns darauf, dass mein Vater sich mit seiner Frau berät – offensichtlich will sich mein Vater bei solch heiklen Frauenthemen nicht allzu sehr festlegen.
Fünf Minuten später: Ina, die Frau meines Vaters ruft an um mir mitzuteilen, dass sie nun losfahren würden. Inzwischen wird mir in Anbetracht meiner Wehen klar, dass das gar keine dumme Idee ist.

Ich laufe weiter rum, räume die Küche auf – erkläre Clara auf ihr wiederholtes Nachfragen immer wieder, dass ich Wehen veratme – das findet sie wohl auch völlig normal. Zumindest mampft sie unbeeindruckt ihr Butterbrot und beobachtet mich beim rumtigern durch das Wohnzimmer.

Ich laufe am Schlafzimmer vorbei – ein leises Schnarchen dringt an mein Ohr: Aha, meine bessere Hälfte ist immer noch im Land der Träume. Ich gehe wieder in die Küche und wehe und puste vor mich hin. Wie ein Blitz schießt es durch meinen Kopf „Ich bekomme heute ein Kind.“ Irgendwie habe ich überhaupt nicht damit gerechnet, dass mein Baby sich vor dem errechneten Geburtstermin auf den Weg machen würde, und schon gar nicht neun Tage früher.
Ich laufe und wehe weiter. Ich merke richtig, wie sich der Kopf des Babys senkt und auf den Beckenboden drückt. Wenn ich mich hinsetze, werden die Wehen weniger – also laufe ich weiter.

Sieben Uhr – es klingelt an der Tür. Mein Vater steht vor mir: „Sie hatten ein Babybett bestellt“. Er hat den umgebauten Babybalkon dabei und stellt ihn im Flur ab. Clara ist fürchterlich froh, Opa und Ina zu sehen. Sie räumt freudestrahlend die Sachen zusammen, die sie mitnehmen will und schon sind die drei zur Tür raus und steigen ins Auto.
Vorher sage ich noch zu meinem Vater, dass ich ein unangenehmes Ziehen in den Beinen habe. Ob ich seiner Meinung nach dagegen Magnesium nehmen solle. Ja, sagt er, das würde in solchen Fällen schon helfen. Gott sei Dank hab ich das aber nicht gemacht. Hinterher wurde mir klar, dass das die Wehen waren, die in die Beine gezogen sind. Hätte ich Magnesium genommen, hätte das die Wehen aller Wahrscheinlichkeit nach, gestoppt.

Alleine – durchatmen – im Bauch ziehts ganz schön – aber immer noch sind die Wehen sehr gut auszuhalten. Ich beschließe Jörg zu wecken. Der ist ganz verdattert. Wie? Er soll sich beeilen? Ob es denn nun wirklich ernst sei, will er von mir wissen. Ja, allerdings entgegne ich ihm. Er habe maximal Zeit für eine Dusche und einen Kaffee.
Ich will ins Krankenhaus – ich merke immer deutlicher, wie sich das Köpfchen seinen Weg ins Becken sucht.
Bevor es losgeht zwinge ich Jörg noch meinen Bauch zu fotografieren. Das macht er auch bereitwillig und dann geht’s los – mit Sack und Pack ins Auto. Langsam wird mir mulmig.
Im Auto sitzend hören die Wehen auf. Schlagartig. So als ob vorher nichts gewesen wäre. „Na klasse,“ denke ich, „nun bekommst Du also Dein zweites Kind und bist schon wieder zu früh in der Klinik und offensichtlich wohl nicht in der Lage echte Geburtswehen zu erkennen.“
Doch die ersten Schritte nach dem Aussteigen aus dem Auto belehren mich eines besseren: die Wehen sind wieder da – schon so heftig, dass ich zwischendurch stehen bleiben und sie veratmen muss. Wir kommen auf der Säuglingsstation an – ich kann gar nicht Guten Morgen sagen, sondern lehne mich an den Türrahmen des Schwesternzimmers. „Ruhig atmen“ sagt die Schwester zu mir. Die Wehe ist vorbei, ich sage meinen Namen und das ich bereits angemeldet sei. Daraufhin werde ich in den Kreißsaal geschickt. Ich laufe den langen Gang hinunter. Eine SMS erreicht mich, meine Hebamme wünscht mir viel Kraft. Ja, die brauche ich jetzt. Dieser Gang auf die Tür des Kreissaales kommt mir ewig lang vor, wie ein Abschied ....


Dienstagmorgen, acht Uhr.
Ich stehe mit meinem Gepäck vor der Tür des Kreißsaals. Mit dabei: meine Krankenhaustasche und mein Rüstzeug für die Geburt: einen Kurs in Selbsthypnose.
Nun wird es ernst – die Dienst habende Hebamme führt mich direkt in den Kreißsaal und schließt mich ans CTG an. Dann geht sie. Jörg und ich sind alleine. Ich stehe vor dem CTG. Eine Wehe nach der anderen kommt. Ich laufe, stampfe, kreise mit dem Becken.
Das Baby rutscht immer tiefer.
Hinter mir auf dem Stuhl kommentiert Jörg was er sieht, nämlich die Zahlen, die der Wehenschreiber in roten Digitalziffern angibt. „70 - das war ne gute Wehe!“ meint er – oder auch „Nur 54 – die war nicht so doll.“ Langsam werden meine Wehen unerträglich. Das Gequatsche hinter meinem Rücken auch – ich sage Jörg, dass JEDE Wehe unbeschreiblich weh tut und dass er sich die Kommentare bitte verkneifen soll. Daraufhin kommt er zu mir und beginnt mir den Rücken zu kraulen. Zu KRAULEN! Das ist ungefähr das zweitletzte was ich in so einem Moment brauche, ich weiß kaum wohin mit meinem Schmerz und der Mann an meiner Seite fängt an zärtlich zu werden. Also bitte ich Jörg wieder auf seinem Stuhl Platz zu nehmen, was er auch brav tut.
Langsam werden die Schmerzen existentiell. Bisher war ich Herr der Wehen, doch so langsam dreht sich der Spieß um. Die Wehen ergreifen Besitz von mir, beuteln mich und schmeißen mich hin und her, wie ein Boot, das bei stürmischer See willenlos auf den Wellen tanzt.
Nun ist es an der Zeit mein Wissen anzuwenden, dass ich mir in den letzten Wochen vor der Geburt angeeignet habe. In der nächsten Wehe versuche ich das Gefühl abzurufen, dass ich während meiner Hypnosesitzungen mit meiner Hebamme verspürt habe. Entspannen, an einem ganz anderen Ort sein, bei meinem Baby sein. Ja, ich bin bei meinem Kind. Irgendwo in mir drin. Der Schmerz übermannt mich, ich kann mich nicht richtig entspannen. Ich muss was ändern. Nur was?

Die Tür öffnet sich – die Hebamme, die mich am Anfang in Empfang genommen hat, kommt um mich zu untersuchen.
Muttermund ist bei vier Zentimetern. Der Chefarzt steht auf einmal auch vor dem Kreißbett. Ob ich eine PDA möchte. Ja – gerne.
Die nächste Wehe – Aua! Jörg hält meine Hand – ich drücke zu. Er beschwert sich, dass das weh täte. Sehr witzig!
Wehenpause – der Chefarzt will wissen, ob ich noch laufen kann. Als ich das bejahe bittet er mich runter in den vierten Stock zu kommen. Er wolle ein Ultraschall machen um zu sehen, wie die Nabelschnur läge. Ich sage, dass das ok sei.
In der Zwischenzeit wird mit Blut zur Quickwertbestimmung abgenommen. Die nächste Wehe – eine nette Assistenzärztin steht neben mir und gibt mir die Hand. „Drücken Sie ruhig fest zu“, meint sie, „ich halte das aus.“ Ich bin unendlich dankbar für diese Hilfe.

Ein Blick auf die Uhr. Es ist 8.30. In ca. einer halben Stunde kann die PDA gelegt werden – Nur noch dreißig Minuten, das schaffe ich. Alle Ärzte und Hebammen gehen wieder. Ich halte es nicht aus auf dem Kreißbett, muss wieder aufstehen. Im Stehen sind die Schmerzen besser zu ertragen. Da kommt wieder eine Wehe. Ich atme ganz tief ein, gehe in den Schmerz, tauche ein, wie in eine Welle, ich gehe mit dem Schmerz, mit dem Druck, merke wie sich die Schädelknochen meines Babys immer tiefer nach unten ihren Weg suchen. Doch was ist das? Das kann nicht sein? Ich verspüre einen unbändigen Drang zu pressen. Ich japse und jaule.

Da geht die Tür des Kreißsaales wieder auf. Eine mir fremde Hebamme steht vor mir und sagt: Ich habe sie gehört, offensichtlich geht es nun richtig los. Ja, sage ich. Ich habe Presswehen. Das kann doch nicht sein. Doch sagt die Hebamme, das ist doch ihr drittes Kind. Das kann schon sein. Zweites Kind, korrigiere ich sie. Auf Exaktheit lege ich immer noch großen Wert. So schlecht kann es mir ja nicht gehen, denke ich, wenn ich während der Presswehen auch noch spitzfindig sein kann.

Ich werde schnell untersucht.
Muttermund ist komplett auf – ich darf pressen. Halleluja – das sind Schmerzen, kaum zu ertragen

Ob ich auf den Gebärhocker wolle, will die Hebamme wissen – Ja, ich will und zwar sofort.
Wie lange muss ich das noch aushalten, frage ich, mit einem Blick zur Uhr – um neun ist das Kind spätestens da – bekomme ich zur Antwort.

Gut, zwanzig Minuten - das kriege ich hin.

In der Zwischenzeit werden der Gebärhocker und diverse Matten und Unterlagen vorbereitet. Hinter den Hocker wird ein Stuhl gestellt – auf dem nimmt Jörg Platz.

Ich setz mich – schau die Hebamme an - wir sind genau auf einer Augenhöhe- sie sagt ich soll pressen – ich frage sie nach einem Dammschutz, daraufhin bittet sie die nette Assistenzärztin um warmen Kaffee, den holt diese auch prompt.

Instruktionen; ich soll pressen - die Hebamme hält das Köpfchen und den Damm – auf Anweisung soll ich aber nicht mehr pressen. Gut, gebt mir Anweisungen, ich mache alles, ich will nur, dass diese verdammten Schmerzen aufhören.

Ich sehe nur noch die Augen der Hebamme – dann schließe ich meine eigenen und bin komplett weg – ganz woanders – ich gebe mich meinem Schmerz und meinem Baby hin – presse, was das Zeug hält und bin bei meinem Kind, während es sich seinen Weg auf diese Welt bahnt. Ich spüre ganz genau, wie sich mein Kind durch mein Becken hindurchdreht.

Zwischendurch hochgucken – die Hebamme macht mir Mut – wieder ein Wehe – ich schließe die Augen – ich will, dass dieser Schmerz aufhört ich presse, presse, presse.

Ich merke, dass das Köpfchen kurz davor ist geboren zu werden. Da schiebt Jörg meine Ellbogen, die sich offensichtlich in seine Oberschenkel gebohrt haben, beiseite. Er hält den Schmerz nicht aus.

Ernüchterung – wie kann man so was machen, ich war doch fast so weit.

Egal!!
Kraft sammeln
Luft holen
Pressen
Weiter
Immer weiter
Ich schaue nach unten – sehe ein Stück Hinterkopf
Ein letztes Mal pressen und ich merke wie ein kleiner Körper zur Welt kommt. Ein rosa Bündel liegt vor mir auf der Matte – Ein kleiner Mensch:

Mein Baby ..... Paul ..... willkommen im Leben!

Dienstagmorgen, neun Uhr.
Unendliche Erleichterung. Mein Sohn ist da, gesund und so vollkommen.
Ich nehme ihn in den Arm und will nun endlich ins Kreißbett.
 

nici

keiner Titel
Da hab ich jetzt gelacht und weinen muß ich auch fast ...

Schön hast du das geschrieben!

:bussi:
Nici
 

Britta

Nordsee Tieffluggeschwader
Oh Silke, das hast du so toll geschrieben.

Ich schwanke zwischen Freudentränen und Unterleibsschmerzen. Das geht wirklich unter die Haut :herz:

:winke:
 

Corinna

Forenomi
Oh Silke!


Ich sitze hier bei brütender Hitze und habe Gänsehaut!
Das hast du soooo schön beschrieben, ich war wieder "mitten drin"....


:bussi:

Einen wunderschönen Paul hast du geboren! :jaja:


:-D
 

Kerstin

Gehört zum Inventar
Toll geschrieben!! Ein sehr schöner Bericht!!

Und Ihr beide habt Nerven wie Drahtseil!! ;-)
 
Y

Yvonne1

Das hast du ja echt toll geschrieben. Da kann man richtig mitfühlen. Und wenn ich ehrlich bin, hatte ich am Ende sogar Tränen in den Augen!!!

Herzlichen Glückwunsch zu Paul.
 
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