Soeben...

Flugente75

Familienmitglied
stand der Sohn der aktuellen Frau meines leiblichen Vaters (könnt ihr mir noch folgen?) bei mir vor der Tür und teilte mir mit, dass mein Vater schwer krank ist (Krebs) und laut Arzt wohl nicht mehr lange zu leben hat. Wenn ich ihn noch mal sehen will, sollte ich mich beeilen.

Ich bin nun hin und her gerissen, aus den verschiedensten Gründen. Einerseits habe ich zu meinem Vater seit fast 10 Jahren keinen Kontakt mehr, die Beziehung zu ihm war auch vorher seit der Scheidung von meiner Mutter sehr kompliziert und die Kontaktlosigkeit letztendlich eher eine Erleichterung. Es ist einiges schief gelaufen, was unser Verhältnis nicht gerade verbessert hat, bedingt dadurch habe ich mich auch nicht gerade darum bemüht, den Kontakt wiederherzustellen.

Hab nun irgendwie trotzdem das Gefühl, dass da irgendwas zwischen uns steht, was ich nun nicht gerade auf dem Sterbebett aufrollen will, würde mich wahrscheinlich aber auch nicht wohl fühlen, wenn ich zu ihm gehe und eins auf heile Welt mache.

Gehe ich aber nicht, plagt mich so was ähnliches wie schlechtes Gewissen, habe ich doch meinem Vater auch die Chance genommen, reinen Tisch zu machen. Vielleicht will er das aber auch gar nicht? Ich glaube, mein Hauptproblem ist, dass ich nicht wirklich weiß, was mich erwartet.

Was mich aber noch viel mehr verunsichert ist die Tatsache, dass es mich überhaupt nicht berührt, was ich gerade erfahren habe. Ganz im Gegenteil, ich wäre irgendwie froh, wenn dieser ständige Druck, mit dem Mann, der mein Vater ist, wieder in Kontakt zu treten (weil es irgendwie jeder von mir zu erwarten scheint und es sich eben nicht schickt, es nicht zu tun) endlich von mir abfallen würde und ich quasi keine Verpflichtungen mehr habe. Es erschreckt mich, dass ich in dieser Angelegenheit so gefühlskalt bin.

Bin grad ziemlich verwirrt, weiß nicht, was ich tun soll. Habt ihr einen Rat für mich?

LG, Kathrin
 

silmaril

Heisse Affäre
AW: Soeben...

Liebe Kathrin,
solche Dinge sind schwere Entscheidungen. Wir haben auch ähnliche Familienkonstellationen (mein Mann UND ich), auch wenn ich im Gegensatz zu meiner Schwester es geschafft habe, zu meinem leiblichen Vater mit 19 wieder Kontakt aufzunehmen (wurde durch unsere Mutter unterbunden). Meine Schwester war viel in therapeutischer Behandlung, und wird es wohl auch immer wieder sein, weil sie die Vergangenheit immer wieder einholt.
Einen echten Ratschlag kann Dir in dieser Situation niemand geben, außer sicherlich diesem, das der Tod etwas Unwiederbringliches ist. Nichts kannst Du hinterher noch ändern.
Du kennst Dich am besten und weißt, ob oder wie sehr Dich Dinge noch beschäftigen, oder ob Du relativ einfach etwas ad acta legen kannst. Für Dich kann es auch gut sein, hinzufahren, egal, wie die Situation vor Ort aussieht oder sich gestaltet. Einfach nur, damit Du Dir hinterher keine Vorwürfe machen kannst, dass Du es NICHT getan hast.
Erwarte nichts davon, sondern einfach nur, dass Du ihm möglicherweise noch einen letzten Gefallen tust. Allen Schwierigkeiten zum Trotz bist und bleibst Du seine Tochter, bis an sein und Dein Lebensende.
Ich würde mich nicht unter Druck setzen, etwas sagen oder aus dem Weg räumen zu müssen. Wenn es so kommen soll, dann wird das von allein passieren.
Nur MUT!!! Alles Gute wünscht Dir Sil
 

Flugente75

Familienmitglied
AW: Soeben...

Danke schon mal für die aufbauenden Worte.

Ich werd auf keinen Fall etwas überstürzen und mich auch nicht vom Ernst der Lage zusätzlich unter Druck setzen lassen. Wahrscheinlich schlaf ich erst mal drüber und schau vielleicht auch erst nächste Woche noch mal drauf. Das Risiko, dass es dann möglicherweise schon zu spät ist, nehme ich in Kauf. Brauch aber erst mal die Zeit, die Info sacken zu lassen.

Wenn ich mich entscheide hinzugehen, dann nur meinem Vater zuliebe und nicht weil ICH das irgendwie brauchen würde. Im Gegenteil, bei mir wühlt die Begegnung wahrscheinlich sogar mehr auf, aber damit werde ich schon fertig. Momentan bin ich aber noch nicht bereit dazu, meinem Vater auf diese Weise einen Gefallen zu tun und es macht mir sehr zu schaffen, dass ich so empfinde. Damit muss ich erst mal klar kommen. Blöde Situation...
 

silmaril

Heisse Affäre
AW: Soeben...

Ich kann Dich sehr gut verstehen. Auf jeden Fall merkst Du, dass von Deiner Seite unglaublich viele Emotionen da sind, die sicherlich alle von Verletzungen und Enttäuschungen herrühren. Wut, Trauer, Schmerz ... das übliche Programm.
Aber vielleicht kannst Du Dich wirklich dazu überwinden, ihm diesen Gefallen zu tun.
Ich habe eines gelernt in den letzten Jahren - dass man Menschen, deren Tod bevorsteht, eher vergeben und verzeihen kann. Und das ist auch für einen selbst eine gute Erfahrung.
 
D

Doris

AW: Soeben...

Mein Vater ist vor 4 Wochen an Darmkrebs erkrankt und wäre beinahe dran gestorben.

Für mich ein unerträglicher Gedanke, wenn ich ihn nicht mehr hätte sprechen können. Das sind Dinge, die man nie mehr rückgängig machen kann. Ich hatte tagelang schlimme Angst um ihn.

Und um mich. Es gibt so etwas wie die Suche nach dem inneren Frieden.

Allerdings habe ich ein sehr liebevolles Verhältnis zu meinem Vater und trotzdem(!) würde ich mich von ihm verabschieden wollen, wenn dem nicht so wäre. Weil der Tod endgültig ist.
 

silmaril

Heisse Affäre
AW: Soeben...

Möglicherweise einen geliebten Elternteil zu verlieren, ist trotzdem aus meiner Sicht nicht vergleichbar damit, wenn man zu dem entsprechenden Elternteil ganz unangenehme Gefühle bis hin zu Wut, Hass oder Angst hegt. Es ist v.a. deshalb zusätzlich so unangenehm, weil Erwartungshaltungen mitspielen - nicht nur die der Betroffenen, sondern auch die der Gesellschaft.
Wer in seinem Leben nicht gelernt hat, sich z.B. emotional auch abzugrenzen, gerät in solch einem Fall noch zusätzlich in einen ganz unangenehmen Zwiespalt.
Aber gerade deshalb ist die Erfahrung, dass Menschen, die kurz vor dem Tod stehen und dadurch ihre Kraft (und oft auch ihre Dominanz) verlieren, hilfreich. Es stellt sich eine gewisse Form der Milde ein, die es einem ermöglicht, eher zu einer Form der Vergebung zu gelangen.
 

Flugente75

Familienmitglied
AW: Soeben...

Ich denke auch, dass ganz klar ein Unterschied gemacht werden muss, wie man zu dem Menschen stand bzw. steht um den es geht. Bei Leuten, denen ich sehr nahe bin, würde sich die Frage "Gehe ich hin oder nicht?" auch bei mir nicht stellen.

@silmaril: Es tut gut zu lesen, dass es da draußen Leute gibt, die diese Situation nachvollziehen können und auch verstehen, dass man keine positiven oder gar keine Gefühle empfindet, OBWOHL es doch um nahe Verwandte, das eigene Fleisch und Blut geht. Sehr oft bekomme ich zu hören (oder auch nur zu spüren, was fast noch schlimmer ist), dass ich doch nicht so sein darf, schließlich ist es ja mein Vater. Aber Gefühle lassen sich nun mal nicht anschalten, wie man's gerade braucht. Und obwohl ich eben so denke und auch dazu stehe, lasse ich mir regelmäßig ein schlechtes Gewissen machen und das belastet mich zeitweise mehr als das schlechte Verhältnis zu meinem Vater selbst.
 

Nirina

Für immer in unseren Herzen 2015†
AW: Soeben...

Hallo,
ich kenn dich ja nicht, weiss also auch nicht, was ich dir raten koennte.

Ich habe zwei Freundinnen, die auch keinen Kontakt zu einem Elternteil hatten, weil es ihnen dadurch besser ging. Bei der einen ist die Mutter letztes Jahr nach laengerer Krankheit gestorben. Auch sie hatte die Chance, sich zu verabschieden, hat sie aber nicht genutzt und sie leidet seitdem sehr an Depressionen. Ich weiss allerdings nicht, was vorgefallen ist. Genausowenig wie bei dir.

Die andere kommt sehr gut damit klar.

Raten kann ich dir nichts. ICH wuerde wahrscheinlich hingehen, schon allein, weil es vielleicht der Wunsch deines Vaters ist und es vielleicht doch irgendwie weitergeht und weil ich ihm trotz allem wuenschen wuerde, dass er dort neu anfangen kann, ohne irgendwelchen Altlasten von der Welt hier. Ihm die Chance geben, sich von dir zu verabschieden. Wenn es dir zu bloed wird, kannst du immer noch gehen und musst dann zumindest hinterher kein schlechtes Gewissen haben.

Ich hab vor 5 Wochen meinen Vater verloren und fuer mich waere es das Schlimmste gewesen, haette ich mich nicht verabschieden koennen. Allerdings hatten wir auch ein wunderbares Verhaeltnis zueinander und von daher ist das sowieso eine ganz andere Situation.

Ich hoffe sehr, dass du die fuer dich richtige Entscheidung treffen kannst.
 
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