Kindheit - Spiel

lulu

Königin der Nacht
Vielleicht erinnert sich noch jemand an diese Diskussion um diesen Artikel. http://www.urbia.de/topics/article/?id=9510&c=0 ?

Ich habe heute etwas anderes interessantes, eine Beitragsserie zum Thema Spiel, auf NPR in die Finger bekommen. Wer mag kann ja mal reinlesen. Ich bin selber noch nicht durch, aber vielleicht ergibt sich ja eine interessante Diskussion. Ist allerdings auf Englisch. Bestimmt auch fuer Lehrer und Erzieher von Interesse.
http://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=76838288

Lulu :winke:
 

waldschnepfe

Dauerschnullerer
AW: Kindheit - Spiel

Hallo Lulu,

das Thema interessiert mich sehr. Wir hatten in Helenes Kindergarten gerade einen Elternabend zum Thema Schulreife und neben einem Vortrag zur Vermittlung von Mathematischen Kompetenzen, einem über Sprachförderung gab es auch einen Vortrag von der Leiterin selber gehalten zum Thema Freispiel. Grundaussage war, dass Spielfähigkeit ein wichtiger Bestandteil der Schulreife ist. Diese Spielfähigkeit geht bei vielen Kindern immer mehr verloren und in Helenes Kindergarten wird spezifisch darauf geachtet, den Kindern genügend Zeit und Gelegenheiten für Freispiel zu bieten. Wir bekamen auch einen Artikel von Armin Krenz mit dem Titel "Spielen will gelernt sein - zur pädagogischen Bedeutung des Kinderspiels" ausgeteilt.
Hier eine kurze Zusammenfassung der Aussagen:
* Die Bedeutung des Kinderspiels wird in den letzten Jahren immer mehr unterschätzt. Eltern und Erzieher sind mehr mit dem Fördern und Lernen beschäftigt (Pisaschock) und denken vermehrt, das Spielen sei überflüssige Zeitverschwendung
* Spielen ist aber von entscheidender Bedeutung für den Erwerb der Schulreife und die Persönlichkeitsentwicklung. Spielwissenschaftliche Forschung hat gezeigt: Kinder, die umfassende Spielerfahrunge gemacht haben, haben mehr emotionale Kompetenzen, verarbeiten Enttäuschungen besser, besitzen eine höhere Frustationstoleranz und sind optimistischer. Sie hören besser zu, sind hilfsbereiter und haben ein geringeres Aggressionspotenzial. Außerdem haben sie eine differenziertere Motorik (Grob und Fein), schnellere Reaktionsfähigkeit und verfügen über eine bewußtere Kontrolle eigener Handlungstätigkeit (das ist wahrscheinlich diese Executive Function aus dem NPR-Artikel), sie sind konzentrationsfähiger und haben einen größeren Wortschatz.
Insgesamt ist Spielfähigkeit also eine wesentliche Voraussetzung für die Schulfähigkeit.
* Spielen ist nicht angeboren, sondern muss "gelernt" werden. Manche Kinder sind von Spielzeug umlagert, können damit aber nicht spielen.
* Wichtig für den Aufbau der Spielfähigkeit ist es, dass Eltern und Erzieher von Anfang an viel mitspielen und ihre eigene Spielfreude einbringen. Dabei sollte kein Förder- oder Schulungsgedanke im Vordergrund stehen sondern die Freude am Spiel.
* Zu viel Spielzeug kann das Spielverhalten von Kindern hemmen. Kinderzimmer und Gruppenräume im Kindergarten sollten regelmäßig "entrümpelt" werden.

Ich fand die Argumentation der Kiga-Leiterin und des Artikels sehr überzeugend. Bei dem Elternabend hatte ich aber auch das Gefühl, dass die Erzieherinnen sich mit dem Thema Freispiel doch rechtfertigen müssen. Viele Eltern denken eben, dass Schulreife trainiert wird, indem man mit den Kindergartenkindern Vorschul-Arbeitsbögen macht oder mit ihnen Englisch lernt. Freispiel hat immer noch das Geschmäckle, dass die Erzieherinnen es sich in der Ecke bei einer Tasse Kaffee gemütlich machen und die Kinder vernachlässigen. Ich fand es daher sehr gut, dass das bei dem Elternabend so differenziert dargestellt wurde. Ich war da vorher durchaus auch skeptisch und wurde überzeugt.
Auf der NPR-Seite habe ich in der Q&A-Section gelesen, die Kinder sollten pro Tag 30-40 Minuten frei spielen. Das finde ich allerdings viel zu wenig. Meiner Meinung nach sollten es mindestens 2 - 3 Stunden sein. Ein Kind kann sich in der Fantasiewelt seines Spiels richtig verlieren. Das passiert aber nicht in den 30 Minuten zwischen Reitstunde und Abendessen. Wenn ich mir Kinder in meinem Bekanntenkreis und in der Nachbarschaft (3 bis 7 Jahre alt) mal so anschaue, haben die meisten mittlerweile ein so volles Programm (Schule, Hausaufgaben, Flötenunterricht, Ballett, Turnen, Fußball, Schwimmkurs, Reitstunde, Englisch etc.)
Nachmittags sind Helene und ich hier oft alleine in unserer Spielstraße unterwegs und erst ab 5 kommen dann die ersten Kinder zum Spielen raus. Ich habe mir jetzt zumindest vorgenommen, nicht blind in diesen Förderwahn reinzulaufen. Ich gebe aber zu, dass das nicht leicht ist, wenn eine Nachbarin mir erzählt, dass ihre Tochter schon mit 3 fließend Englisch spricht...

Viele Grüße

Verena
 

waldschnepfe

Dauerschnullerer
AW: Kindheit - Spiel

Sorry, das Posting war ja schrecklich lang :(
Trotzdem noch eine Ergänzung: Ich habe irgendwie leider nicht richtig verstanden, was dieses Tools of Mind Programm eigentlich bringen soll. Für mich hörte sich das ziemlich artifiziell an, erst mal schriftlich etwas niederzulegen, bevor die Kinder einkaufen spielen gehen. Nach Spielfreude klingt das irgendwie nicht. Oder hab ich da was falsch verstanden?
Verena
 

lulu

Königin der Nacht
AW: Kindheit - Spiel

Ich fand auch, dass das komisch klang *gg*, habe aber noch nicht weiter gelesen.

Ich bin durch einen Elternbrief des Kindergartens auf die Seite aufmerksam gemacht worden. Der Kindergarten und die Schule, die daran haengt, fangen jeden! Tag mit 90 Minuten "Choice-Time" an. In dieser Zeit koennen die Kinder spielen, lernen, an Projekten arbeiten, in andere Klassenzimmer abwandern (man wundert sich, dass immer wieder auch 10-jaehrige noch in den Kindergartengruppen anzutreffen sind :jaja: ). Die Aktivitaeten, die zur Verfuegung stehen, beziehen sich zT auch auf die aktuellen Projektthemen, aber wieviel wann davon genutzt wird, ob kollaborativ oder allein, das bleibt den Kindern ueberlassen. Ausserdem widersetzt sich die Schule dem nationalen Trend die Pausenzeiten beispielsweise zu kuerzen.

Da wir kaum Medien konsumieren und viele der Freizeitaktivitaeten hier so teuer sind, dass wir sie nur ganz selektiv aussuchen koennen (3 Kids halt), haben meine Kinder viel Zeit zum freien Spiel mit oder ohne Freunde. Weitaus mehr als 30-40 Minuten am Tag (die Zeitempfehlung ist ja ein Witz! Da hat man ja gerade erst angefangen zu spielen). Mein Grosser ist allerdings nicht so ein Spiel-Typ. Vielleicht ist das ja der Grund dafuer, dass er in dieser "executive function" vielleicht auch nicht so stark ist wie seine kleineren Geschwister, wenn ich sie jetzt einfach mal "ranken" muesste. Gerade gestern Abend waren Freunde von uns mit ihren Kids, 6 und 9, zu Besuch, und am Ende haben auf Levins Initiative hin vier der Kinder ein Rollenspiel mit Props und Verkleidung gespielt, wohingegen Klaas unsere Freundin zum Schachspiel ueberredet hatte...

Lulu :winke:
 
J

Janine

AW: Kindheit - Spiel

Erstmal vielen Dank für den interessanten Bericht.
Ich, die ja ein riesen Fan von Fantasiereisen, Fantasiewelten, Rollenspielen aber auch Computergames, schon immer wahr und bin, gebe das "Vermögen", sich aus kleinsten Dingen, grösste Welten und Geschichten zu erdenke natürlich liebend gerne an meine Kinder weiter und finde es auch unglaublich wichtig und fördernd und natürlich ist es auch ein riesen Spass.

Das es früchte trägt merke ich extrem am kreativen Spiel meiner Kinder. Sie sind jetzt schon in der Lage problemlos sich vorzustellen in einem Supermarkt zu stehen (vor unserem Küchenschrank z.B.) und mit einem kleinen Einkaufskorb einzukaufen, dann wird am Flur nach links und rechts geshaut ob auch kein Auto kommt, danach wird an der Wohnzimmertür geklingelt, mir ne imaginäre Schockolade vorgehalten und gesagt probier mal, war einkaufen.

Das zeigt das sie sich komplett vorstellen können woanders zu sein und das in kleinste Details. War jetzt nur ein Beispiel, das kann ne Baustelle sein, ein Zoo etc. meist das was sie grade beschäftigt wird auch nachgespielt.
Leider auch der letzte Streit der Eltern (ist ja eben auch ein Päärchen). Aber das öffnet einem ja auch die Augen (grins und räusper).

Also es war schön mal darüber zu lesen und nachzudenken, denn bei manche Dingen wie z.B. der KLeiderwahl, da bin ich doch tatsächlich schon manchmal nach meinem Geschmack gegangen als z.B. nach der Bequemlichkeit. Sollte ich wirklich mal überdenken wie hirnrissig das ist.

Allerdings würde ich, aus meiner Erfahrung her, meinen Kinder niemals irgendwelche Spielkonsolen etc. verwehren, da ich der Meinung bin das es schon gewissen Dinge trainiert und fördert, die eben im freien Spiel nicht angesprochen werden. Ich denke nur an Tetris (ich kann heute noch super Ding im meinem Kopf drehen und wenden und zuordnen :)) oder eben auch Rollenspiele und ich weiss selbst das man sich dann eben auch mal ein Wochenende in ein Computerspiel vertiefen kann und Wochen damit beschäftigt sein kann. Ist ok für mich, natürlich muss man Ausgleich schaffen, aber man sollte doch die moderne Welt, sprich Hightech und hohe Anforderungen in der Berufswelt, nicht ausser acht lassen und deshalb ist Englisch mit 3 oder frühkindliche Musikentwicklungskurse und all der Schmarotz und Angebote die unseren Kindern geboten werden sicher nix schlechtes. Man hat ja die Wahl, man kann, aber muss nicht.

Also allgemein hab ich mein Gedanken wirrwarr zum Thema abgelassen, ich hoffe es war nicht zu verfehlt, gelesen hab ich jedenfalls den Bericht und ich werde den Kindergarten auch sicher demnächst nach der freien Spielzeit fragen, aber kann mir vielleicht nochmal einer das Spiel aus dem Bericht erklären, mit der Karte die vorher beschrieben werden muss? bevor man Bibliothek oder was war es? spielen kann. Hab ich auch nicht ganz verstanden...
 

waldschnepfe

Dauerschnullerer
AW: Kindheit - Spiel

Hallo allemiteinander,

Janine, das finde ich ganz toll, wie Du das Phantasiespiel mit Deinen beiden Zwillingen beschreibst. Bei mir ist das eindeutig nicht meine Stärke. Ich habe schon als Kind eher gerne konstruiert, gebaut, Puzzles gelegt, Aufgaben gelöst und weniger Rollenspiele gemacht. Typisch war, dass ich mit Bauklötzen eine ganze Stadt gebaut habe und meine kleine Schwester dann mit ihren Playmobil-Männchen darin gespielt hat. Dementsprechend tue ich mich bei den Rollenspielen mit Helene eher schwer. Kann man das vielleicht üben? Ich werde das mal ausprobieren.
Noch ein Aspekt, der mir ein bischen Kopfzerbrechen bereitet: ich bin mir unsicher bezüglich der Grenze zwischen "mit dem Kind spielen" und "das Kind bespielen/Entertainer sein". Oftmals habe ich das Gefühl, dass doch viele Anregungen, was man spielen könnte von mir kommen - und wenn ich den Artikel zur Spielfähigkeit richtig verstanden habe, soll das ja auch so sein. Allerdings muss man ja auch aufpassen, dass die Kinder sich nicht nur bedienen lassen und auch selbst zu Spiel beitragen, bzw. das Spiel überhaupt ihren Bedürfnissen entspricht. Ich möchte ja, dass Helene lernt selbst das Spiel zu gestalten und nicht nur konsumiert, was ich ihr anbiete. Wie handhabt ihr das?

Viele Grüße

Verena
 

Susala

Prinzessin auf der Palme
AW: Kindheit - Spiel

Trotzdem noch eine Ergänzung: Ich habe irgendwie leider nicht richtig verstanden, was dieses Tools of Mind Programm eigentlich bringen soll. Für mich hörte sich das ziemlich artifiziell an, erst mal schriftlich etwas niederzulegen, bevor die Kinder einkaufen spielen gehen. Nach Spielfreude klingt das irgendwie nicht. Oder hab ich da was falsch verstanden?
Das habe ich auch nicht richtig verstanden. Wieso sollen Kinder erst schriftlich erarbeiten, was sie spielen wollen?

Ich finde nur 30-40 Minuten am Tag eher arg wenig. Zumal bei den Altersangaben ja auch Kinder ab 3 Jahren gemeint sind, also auch vor der Schulzeit. 30-40 Minuten Spielzeit hat mein Kind schon meistens morgens bevor er in die Kita geht. In der Woche kommt er eher auf 5-7 Stunden Freispiel, wenn ich mich nicht verrechne.

Liegt mein Unverständniss daran, dass wir so kurze Wege haben in einer großen Stadt? Unsere üblichen Wege dauern alle unter 5 Minuten.

Ich möchte ja, dass Helene lernt selbst das Spiel zu gestalten und nicht nur konsumiert, was ich ihr anbiete. Wie handhabt ihr das?
So etwas mache ich weniger vergeistigt. Ich lasse ihn spielen und ich spiele mit ihm. Ich habe aber auch ein Kind, das weiß was es will. Rollenspiele teilt IMMER er zu. Ich lehne höchstens Rollen ab. :umfall:
 

lulu

Königin der Nacht
AW: Kindheit - Spiel

"Executive function has a number of elements, such as working memory and cognitive flexibility. But perhaps the most important is self-regulation — the ability for kids to control their emotions and behavior, resist impulses, and exert self-control and discipline. Executive function — and its self-regulation element — is important. Poor executive function is associated with high dropout rates, drug use and crime. In fact, good executive function is a better predictor of success in school than a child's IQ."

Das Paperwork, das die Kinder ausfuellen, um ihr Rollenspiel zu initialisieren hat den Sinn Disziplin und Determination, Planung von Aktivitaeten zu lehren. Man muss das paedagogische Konzept des Kindergartens schon vor dem Hintergrund des Umfelds sozialer Brennpunkt betrachten. Der "executive function", oder der eigenen Handlungstaetigkeit, wird grosse Bedeutung in Bezug auf Schulerfolg und Abstinenz von Drogen und Kriminalitaet zugesprochen. Das ist zentral fuer die Schulen in sozialen Brennpunkten. Das ist genau das Problemsprektrum, dem dieser Kindergarten versucht ueber die Disziplin geplantes Freispiel auch durchzufuehren und nicht beim ersten Konflikt abzubrechen vorzubeugen.

Ich habe noch mal darueber reflektiert, wieviel Freispielzeit unser Kindergarten eigentlich hat. Das sind die ersten anderthalb Stunden des Tages "Choice Time", die zwei halben Stunden draussen, die Zeit zwischen Mittagessen und Mittagsruhe und unmittelbar nach der Mittagsruhe. Das ist etwa die Haelfte der Zeit (3 bis 3,5 Stunden), die die Kinder im Kindergarten verbringen. Die Ratio mag bei nur Vormittags- oder Ganztagskindern anders aussehen. Und wie gesagt, in der Choice Time wird auch gebastelt, gewerkt, vorgelesen. Aber die Kinder suchen aus, mit was sie sich gerade befassen wollen und die Erzieherinnen helfen, leiten an, und diversifizieren auch mal die Ideen (wenn es mit ihnen durchgeht). Freies Rollenspiel kann Teil dieser Zeit sein, muss aber nicht. Aber danach kommt wirkliches Rollenspiel. Jeden Tag wird eine von den Kindern erzaehlte und von G. notierte Geschichte nachgespielt. Das finde ich wirklich revolutionaer in der Paedagogik. Unter Vivian Paley kann man suchen, wenn man sich fuer das Rollenspiel im Klassenzimmer interessiert.

In der oeffentlichen Vorschule wird dieses Freispiel in meinen Augen zu sehr reduziert. Eigentlich haben die fuenf- und sechsjaehrigen Kinder nur etwa anderthalb Stunden am Tag dafuer zur Verfuegung (waehrend des Schultages). Meinem Sohn ist das viel zu wenig, und er mosert und motzt darueber. Viel Zeit wird er fruehen Lese- und Schreibfaehigkeit gewidmet. Das geht ihm relativ am Popoechen vorbei, auch wenn er natuerlich stolz auf seine Arbeit ist.

Lulu
 
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